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dem Gesichtswinkel der logischen Struktur der Dichtung als fiktionale Gattung
zusammen der Lyrik gegenüberstehen und sich als von dieser kategorial ver
schieden erweisen. Aber nur die epische, nicht die dramatische Fiktion weist
alle Erscheinungen auf, an denen dies mit voller und stringenter Beweiskraft
gezeigt werden kann. Denn nur am Problem des Erzählens lassen sich die
logisch-erkenntnistheoretischen und die grammatisch-semantischen Verhält
nisse aufzeigen, die die Fiktion von der Wirklichkeit unterscheiden. Nur in
der erzählenden, nicht in der dramatischen Dichtung lebt und wirkt die Sprache
in ihrer Totalität, nur an ihr kann gezeigt werden, was es bedeutet, wenn die
Sprache ein Fiktions- und kein Wirklichkeitserlebnis erzeugt. Das heißt: nur
am Unterschied zwischen Aussage und fiktionalem Erzählen ist die logische
Struktur der Fiktion herauszuarbeiten.
Das epische Präteritum
Wir sagten, daß es in unserem Beispiel, dem Anfang des »Jürg Jenatsch«,
die Erwartung des Auftretens der Romanpersonen ist, ,die uns von vorn
herein das Geschilderte als nicht-wirklich, und das heißt nicht als das Erleb
nisfeld des Erzählers erscheinen läßt. Aber damit ist nur das ungefähre
Erlebnis angedeutet, das wir bei der Lektüre einer (er-)erzählenden Dich
tung, Homers so gut wie eines beliebigen Zeitungsromans, haben. Und es
kann auch der Einwand erhoben werden, daß es doch sehr >subjektiv< er
zählte Romane gebe, solche, bei denen der Erzähler mit »ich« und »wir«
hervortritt, sich an »seine lieben Leser« wendet und dergleichen mehr.
Diese und andere Einwände können erst beantwortet werden, wenn Wesen
und Funktion des >Erzählers< sprachtheotetisch und grammatisch völlig
erhellt sind und damit das psychologische Leseerlebnis des Nicht-Wirklichen
seine Begründung erhalten hat.
Wir müssen uns zu diesem Zwecke nach einer sprachtheoretischen Er
scheinung des Erzählens umsehen, die diesen Nachweis mit größerer Strin-
genz als irgendeine andere erbringen kann, ja so geartet ist, daß alle anderen
erzählerischen Phänomene sich aus ihr einwandfrei erklären und entwickeln
lassen. Es gibt eine solche Erscheinung, und wir wundem uns nicht, daß sie
mit dem Verb, dem Verbtempus und damit dem Problem der Zeit zusam
menhängt. Es ist im Satze, in der Rede das Verb, das über die >Seinsweise<
von Personen und Dingen entscheidet, ihren Ort in der Zeit und damit in
der Wirklichkeit angibt, über ihr Sein und Nichtsein, ihr Noch-, Nichtmehr-
und Nochnichtsein aussagt.