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»Mitten im Geläute von zehn kleinen Glocken ging es durch eine lange
Lindenallee, der Schlitten bog aus und da war der Schloßplatz«, berichtet
Rilke im Briefe vom 4. Dezember 1904, und wir wissen, daß er diese Schlit
tenfahrt vor diesem Tage gemacht hat, der Winterausflug nach Oby in
Schweden für ihn ein vergangenes Ereignis ist: denn er berichtet es im
Imperfekt. »Die Mittagssonne stand über der kahlen, von Felshäuptern um
ragten Höhe des Julierpasses im Lande Bünden. Die Steinwände brannten
und schimmerten ...« Auch diese Schilderung ist im Imperfekt erzählt.
Und also, sagen Grammatiker und Dichtungstheoretiker, berichtet der Epi
ker seine Geschichte als vergangen, oder wenigstens als ob sie vergangen
wäre. Über die viel zitierte Auffassung Goethes in seiner berühmten Dis
kussion mit Schiller über die epische und dramatische Dichtung vom De
zember 1797, daß »der Dramatiker (Mime) die Begebenheit als vollkommen
gegenwärtig darstellt, der Epiker (Rhapsode) sie als vollkommen vergangen
vorträgt«, ist man nicht wesentlich hinausgekommen. Und wenn auch das
Erlebnis, das wir beim Lesen eines Romans so gut wie Homers und des
Nibelungenliedes haben, darauf aufmerksam werden ließ, daß es sich mit
dem Vergangensein und selbst dem Als-vergangen-gedacht-Sein der epi
schen Handlung problematischer verhält, ist man wiederum nicht weit über
die Modifizierung hinausgekommen, die schon Schiller mit Goethes Be
hauptung vornahm: »daß die Dichtkunst auch den epischen Dichter nötige,
das Geschehene zu vergegenwärtigen«. Und das häufige Vorkommen des
historischen Präsens erschien als willkommene Bedeutungserfüllung dieses
Begriffes der Vergegenwärtigung. Schon Schiller, indem er ihn antithetisch
zu >vergangen< gebraucht, belastete ihn dabei in zu prägnanter Weise mit
der temporalen Bedeutung, die dem deutschen Worte Gegenwart anhaftet.
Aber besonders im Zusammenhang mit den Theorien über das historische
Präsens hat man den Begriff der Vergegenwärtigung temporal überbewertet,
wie wir unten näher darlegen werden, und diese Überbewertung entsprang
der niemals bezweifelten, diese nur bestätigenden Annahme, daß das episch
Erzählte als vergangen gedacht und dargestellt sei, weil es in der gram
matischen Form des Präteritums erzählt ist. Denn daß das Präteritum an
irgendeinem Orte sprachlicher Kundgebung nicht Ausdruck vergangenen
Geschehens sein könnte, ist nicht zur Diskussion und in Frage gestellt
worden. Deshalb konnte die epische Erzählform nicht befriedigend be
schrieben werden, blieben sprachliche und grammatische Probleme, wie
etwa das der erlebten Rede, ungelöst. Es ist aber die in der Tat zunächst
paradox anmutende Bedeutungsveränderung, die sich mit dem Präteritum