Full text: Die Logik der Dichtung

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und uns darauf besinnen, daß wir niemals von einer anderen realen Person 
sagen können: er dachte oder denkt, fühlte oder fühlt, glaubte oder glaubt 
usw., erkennen wir, daß bei Eintritt dieser Verben in die Erzählung das 
Präteritum, in dem sie erzählt ist, eine sinnlose Form wird, wenn man es als 
das Tempus der Vergangenheit auffaßt. Mit anderen Worten: der Gebrauch 
dieser Verben ist der stringente erkenntnistheoretische Beweis dafür, daß 
das Präteritum in der Epik keine Vergangenheitsfunktion hat, so wie seine 
Verbindung mit den deiktischen Adverbien der grammatische Beweis dafür 
ist (und seinerseits natürlich durch den ersteren bedingt). 
Es könnte hier eingewendet werden, daß Verben wie glauben, meinen, 
denken u. a. doch auch in nicht-epischen, in historischen Darstellungen zur 
Anwendung kommen können, ich z. B. sagen kann: Napoleon hoffte oder 
glaubte, daß er Rußland unterwerfen würde. Der Gebrauch von »glauben« 
ist aber hier nur abgeleitet und kann denn auch in einem solchen Zusammen 
hang nur als Richtverb einer indirekten Angabe dienen. Es wird aus den 
überlieferten Dokumenten abgeleitet, geschlossen, daß Napoleon des Glau 
bens war, er würde Rußland unterwerfen. Im historischen, im Wirklich 
keitsbericht aber kann Napoleon nicht als ein dies >jetzt und hier< Glauben 
der dargestellt werden, das heißt: in der Subjektivität, der Ich-Originität 
seiner inneren Vorgänge, seiner >Existenz<. Geschieht das, befinden wir uns 
in einem Napoleonroman, in einer Fiktion. Die epische Fiktion ist der einzige 
erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten 
Person als einer dritten dargestellt werden kann. Die Verben der inneren Vorgänge, 
die den stringenten Beweis dafür erbringen, begründen damit zugleich auch 
den Verlust der Vergangenheitsfunktion des Präteritums, in dem sie selbst 
und die übrigen Verben der Fiktion stehen. Ein Vergangenheitserlebnis 
existiert nicht, wenn es von einer Person heißt, daß sie dies oder das dachte, 
hoffte, sann, und auch sagte. 
Das Verb »sagen« bedarf einer besonderen Erörterung. Es nimmt eine Art 
von Zwischenstellung zwischen den Verben der äußeren und denen der 
inneren Vorgänge ein. Es bedeutet, daß ein innerer Vorgang verlautbart 
wird und damit wahrgenommen werden kann. Dennoch hat es eine andere 
Bedeutung als andere Verben, die wahrnehmbare Laute bezeichnen, z. B. 
singen, schreien u. ä. Das Verb sagen bezieht sich nicht wie diese auf die 
Lautmaterie des Verlautbarten, sondern auf seinen Sinn. Es ist semantisch 
betrachtet darum ebenso ein Verb des inneren Vorgangs wie denken, hoffen 
usw., und ich bediene mich seiner in indirekter Wiedergabe genau wie dieser 
Verben. Ja, in diese ist dann geradezu eingeschlossen, daß das Gedachte,
	        

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