Full text: Die Logik der Dichtung

76 
blance of memory« oder »virtual memory« 69 . Beschreibt diese komplizierte 
Begriffskoppelung das Phänomen, um das es sich handelt, entspricht sie dem 
Leseerlebnis und, wie wir wohl ohne weiteres behaupten dürfen, dem Kon 
zeptionserlebnis des Dichters? Welches ist das Erlebnis der Erinnerung in 
ihrem autochthonen Sinne ? Erinnerung ist primär nur an Eigenerlebtes ge 
knüpft. Nur meine eigene Vergangenheit kann ich erinnern. Von der Ver 
gangenheit (realer) dritter Personen, die ich selbst nicht miterlebt habe, kann 
ich nur indirekt erfahren, sie zur Kenntnis nehmen, ebenso wie die geschicht 
liche, vor meiner Lebenszeit liegende Vergangenheit. Daß geschichtliches 
Bewußtsein, »the sense of history«, sich, wie S. Langer meint, als »memory« 
konstituierte 70 , ist eine Metapher, die einem möglichen Lebensgefühl Aus 
druck gibt, eine von verschiedenen möglichen Deutungen des Geschichts 
erlebens. Falsch aber wird solche Deutung, wenn sie nun, auf Grund des 
»past tense« auf einen Roman angewandt wird. Dies zeigt sich gerade in der 
Begriffsbildung, die dazu nötig wurde, »abstracted memory« oder »sem- 
blance of memory«, die nun überhaupt keinem sachlichen noch Erlebnis 
phänomen mehr entspricht. Er ist gebildet in Angleichung an die Bestim 
mung S. Langers, daß die erzählende Dichtung nicht bloß Schein des Le 
bens, sondern Schein vergangenen Lebens, ja »virtual past« schaffe. Wohl 
ist es richtig, ja tautologisch, daß die Fiktion eine Illusion des Lebens schafft, 
weshalb Aristoteles sie eine Mimesis genannt hat. Falsch aber ist es, das 
Scheinsein auf Vergangenes als solches zu beziehen. Als Schein kann nur 
etwas gestaltet werden, was als solches konkret, ein Gegenstand, oder ein 
sich irgendwie an Gegenständlichem (Personen, Dingen) manifestierender 
Vollzug ist. Leben kann als Schein im Spiel, in der Kunst dargestellt werden, 
aber vergangenes Leben kann nicht als vergangenes in Schein verwandelt 
werden. Denn das Vergangensein ist keine wahrnehmbare Eigenschaft; es 
ist begrifflich, durch Daten bestimmt, gewußt. Sehen wir beispielsweise in 
einem Museum Gegenstände aus einer vergangenen Epoche: Möbel, Trach 
ten, Geräte, so knüpfen wir an sie den Begriff des Historischen nur durch 
unser Wissen darum, das gelenkt und präzisiert durch die angegebenen 
Daten der Zeit und des Ortes ist. Sehen wir dagegen solche Gegenstände 
auf einem Gemälde Terborchs, entschwindet das Wissen, daß sie einer ver 
gangenen Epoche zugehören, in hohem Grade und wir erleben sie als künst 
lerischen Schein von Dingen, die jeglicher Zeit enthoben sind. Wenn S. 
Langer durch den Begriff der abstrakten illusionären Vergangenheit auch 
69 Susanne Langer, Feeling and Form, New York 1953, S. 269 
70 Ebd., S. 263
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.