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blance of memory« oder »virtual memory« 69 . Beschreibt diese komplizierte
Begriffskoppelung das Phänomen, um das es sich handelt, entspricht sie dem
Leseerlebnis und, wie wir wohl ohne weiteres behaupten dürfen, dem Kon
zeptionserlebnis des Dichters? Welches ist das Erlebnis der Erinnerung in
ihrem autochthonen Sinne ? Erinnerung ist primär nur an Eigenerlebtes ge
knüpft. Nur meine eigene Vergangenheit kann ich erinnern. Von der Ver
gangenheit (realer) dritter Personen, die ich selbst nicht miterlebt habe, kann
ich nur indirekt erfahren, sie zur Kenntnis nehmen, ebenso wie die geschicht
liche, vor meiner Lebenszeit liegende Vergangenheit. Daß geschichtliches
Bewußtsein, »the sense of history«, sich, wie S. Langer meint, als »memory«
konstituierte 70 , ist eine Metapher, die einem möglichen Lebensgefühl Aus
druck gibt, eine von verschiedenen möglichen Deutungen des Geschichts
erlebens. Falsch aber wird solche Deutung, wenn sie nun, auf Grund des
»past tense« auf einen Roman angewandt wird. Dies zeigt sich gerade in der
Begriffsbildung, die dazu nötig wurde, »abstracted memory« oder »sem-
blance of memory«, die nun überhaupt keinem sachlichen noch Erlebnis
phänomen mehr entspricht. Er ist gebildet in Angleichung an die Bestim
mung S. Langers, daß die erzählende Dichtung nicht bloß Schein des Le
bens, sondern Schein vergangenen Lebens, ja »virtual past« schaffe. Wohl
ist es richtig, ja tautologisch, daß die Fiktion eine Illusion des Lebens schafft,
weshalb Aristoteles sie eine Mimesis genannt hat. Falsch aber ist es, das
Scheinsein auf Vergangenes als solches zu beziehen. Als Schein kann nur
etwas gestaltet werden, was als solches konkret, ein Gegenstand, oder ein
sich irgendwie an Gegenständlichem (Personen, Dingen) manifestierender
Vollzug ist. Leben kann als Schein im Spiel, in der Kunst dargestellt werden,
aber vergangenes Leben kann nicht als vergangenes in Schein verwandelt
werden. Denn das Vergangensein ist keine wahrnehmbare Eigenschaft; es
ist begrifflich, durch Daten bestimmt, gewußt. Sehen wir beispielsweise in
einem Museum Gegenstände aus einer vergangenen Epoche: Möbel, Trach
ten, Geräte, so knüpfen wir an sie den Begriff des Historischen nur durch
unser Wissen darum, das gelenkt und präzisiert durch die angegebenen
Daten der Zeit und des Ortes ist. Sehen wir dagegen solche Gegenstände
auf einem Gemälde Terborchs, entschwindet das Wissen, daß sie einer ver
gangenen Epoche zugehören, in hohem Grade und wir erleben sie als künst
lerischen Schein von Dingen, die jeglicher Zeit enthoben sind. Wenn S.
Langer durch den Begriff der abstrakten illusionären Vergangenheit auch
69 Susanne Langer, Feeling and Form, New York 1953, S. 269
70 Ebd., S. 263