Full text: Die Logik der Dichtung

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einem Wirklichkeitsbericht wie dem Goetheschen Reisebericht oder dem Ril- 
keschen Brief nicht unterscheidbar ist. Alles was hier ausgesagt ist, kann in 
das Erlebnis-, das Wahrnehmungsfeld eines Aussagesubjekts fallen. Und so 
fein ist die Grenze, die hier läuft, aber — wie wir noch näher sehen werden — 
bei aller Feinheit die Sprachgebiete kategorial voneinander trennt, daß ohne 
das einzige Wörtchen »bedacht« — etwa: schnell zog er seine lederne Brief 
tasche hervor — der Inhalt dieses Satzes noch in das Wahrnehmungsgebiet 
fallen könnte. Ob jemand etwas schnell oder langsam tut, kann beobachtend 
festgestellt werden. Aber ob er sich dabei schnell oder langsam bedenkt, 
entzieht sich der Beobachtung, was bewirkt, daß dieser Satz auch losgelöst 
aus seinem Kontext sogleich als ein fiktionaler, ein Romansatz erkannt wer 
den kann. Und dies bedeutet, wie nun nochmals hervorgehoben sei, daß wir 
uns in diesem erzählenden Werke nicht in der Vergangenheit des Dichters, 
der es erzählt, sondern in der >Gegenwart< des Herrn Vasa und der übrigen 
Personen des Romans befinden: »Fünfthalb Fuß, sagte er vor sich hin. >Was 
treibt Ihr ? Spionage ?< ertönte neben ihm eine gewaltige Baßstimme ...« 
und so fort. Eine >Gegenwart<, um es noch genauer zu formulieren, die trotz 
der Imperfekte »zog, sagte, ertönte« nicht in der Vergangenheit des erzäh 
lenden Dichters steht, so wie die Schlittenfahrt des Rilkeschen Briefes in der 
Vergangenheit dieses Briefschreibers, das St.-Rochus-Fest (trotz des hier ech 
ten historischen Präsens) in der des Reiseschilderers Goethe steht. 
Die Dichtkunst, hatte Schiller Goethe entgegnet, nötige auch den epi 
schen Dichter, das Geschehene zu vergegenwärtigen. Schiller bedient sich 
des Begriffes der >Vergegenwärtigung< hier durchaus in dem an den Zeit 
sinn des deutschen Begriffes Gegenwart geknüpften Gegensatz zur Ver 
gangenheit, um die sich ja die Diskussion der beiden Dichter drehte, und 
bringt dies auch zum Ausdruck in der Partizipialbildung »das Geschehene«. 
Die in dem deutschen wie auch in dem romanischen Begriff >representer, 
representation< enthaltene temporale Bedeutung tritt nun in seinem Ge 
brauche keineswegs immer als dominierend hervor. Das heißt der Gegen 
satz zu einem Vergangenen verschwindet hinter der Bedeutung des Vor 
stellens, die das deutsche Wort mehr als das romanische zugleich mit der 
des anschaulichen Vorstellens verbindet. Diese kleine Bedeutungsanalyse 
des Begriffes Vergegenwärtigung ist nicht ohne Wichtigkeit für die Pro 
blematik des fiktionalen Erzählens und, in engstem Zusammenhang mit der 
Phänomenologie des Präteritums, auch für die des historischen Präsens. 
Um einsichtig zu machen, daß wir die im Roman erzählte Handlung nicht 
als eine vergangene erleben, hatten wir sie als fiktiv gegenwärtig bezeichnet,
	        

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