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zurückliegende oder unbestimmte Zeitpunkte machen. Wir können sagen:
gestern oder vor einer Woche radelte Peter nach der Stadt, aber wir pflegen
nicht zu sagen: vor zehn Jahren oder Anfang dieses Jahrhunderts radelte
Peter nach der Stadt, oder gar: stand er vom Stuhle auf. ln der Wirklichkeits
aussage bedienen wir uns solcher Situationsverben im Imperfekt nur in bezug
auf kurz vergangene Zeitpunkte. Und zwar deshalb, weil diese Verben eine
konkrete, von mir, dem hier und jetzt Aussagenden noch übersehbare, erinnerte
Situation bezeichnen. In einer Wirklichkeitsaussage könnte ein Satz wie der
unseres Textes nicht Vorkommen. In ihr würde die Beziehung eines sich von
seinem Lager erhebenden jungen Mannes zu der Angabe, daß die Stadt
Zürich, in der dies gegen Ende der achtzehnhundertzwanziger Jahre geschah,
mit weitläufigen Festungswerken umgeben war, nicht möglich sein. Lesen
wir den Text, ohne zu wissen, aus welchem Zusammenhang er stammt, wis
sen wir dennoch sofort, daß es sich hier nicht um einen Wirklichkeitsbericht
handelt. Das erste Verb, das uns begegnet, »erhob sich von seinem Lager«
macht erkennbar, daß wir es mit einer fiktionalen Erzählung zu tun haben.
Und dieses Verb tut sogleich noch mehr, es vernichtet die Zeitangabe in ihrer
Eigenschaft als Vergangenheitsangabe, und tut das, obwohl es im Imperfekt
steht. Es macht vielmehr die angegebene vergangene Zeit gegenwärtig ebenso
wie den Raum, zu einer jetzt und hier vorhandenen fiktiven Situation, in der
sich unser »junger Mann« nicht erhob, sondern sich erhebt. Was aber ge
schieht mit der Angabe einer schon für den Autor der Züricher Novellen zu
rückliegenden Zeit? Sie verliert ihre Funktion als historische Vergangen
heitsaussage, sie gibt bloß den Schauplatz an, den wir als den der kommenden
Erzählung nun betreten haben, das Bild der Stadt Zürich, die zu dieser Zeit
noch von Festungswerken umgeben war. Das Situationsverb vernichtet den
Vergangenheitscharakter, den in einer Wirklichkeitsaussage sowohl Zeitan
gabe wie präteritive Form haben, und stellt eine fiktive Gegenwart her, die
sich dann sogleich durch alle weiteren Erzählungsmomente immer deutlicher
und intensiver herstellt. Lesen wir weiter,
Herrn Jacques’ Morgengemüt war nicht so lachend wie der Himmel, denn er hatte eine
unruhige Nacht zugebracht, voll schwieriger Gedanken und Zweifel über seine eigene Person.
so erlebt der Leser wie der Dichter, der es schrieb, dies nur in der Weise, daß
Herrn Jacques’ Morgengemüt nicht lachend ist —- in dem fiktiven Augen
blick des Daseins dieser fiktiven Gestalt. Das entscheidende fiktionalisierende
Element ist in diesem Texte also das Situationsverb, das bereits die Mächtig
keit hat, den Vergangenheitscharakter von Tempora und Zeitadverbialen