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Begründung der Vergangenes vergegenwärtigenden Funktion des historischen
Präsens findet sich bei Wunderlich-Reis, wo die Entstehung des historischen
Präsens auf lebhaft er2ählte Selbsterlebnisse zurückgeführt ist, wobei der Er
zähler die in diesem Falle ja für ihn stets vergangenen Ereignisse »wieder als
gegenwärtige Erlebnisse zu schauen glaubt« 74 . Es mag dahingestellt bleiben,
ob diese Erklärung sprachhistorisch völlig haltbar ist 75 . Sprachpsychologisch
betrachtet verdeutlicht sie jedenfalls allein das Erlebnis der Vergegenwärtigung,
das Erzähler und Empfänger durch präsentische Schilderung vergangener
Ereignisse erfahren. Dies kann nur an Dokumenten von Selbsterlebnissen,
also an autobiographischen Darstellungen aller Art geschehen. Ein gutes Bei
spiel liefert Gerhart Hauptmanns Reiseschilderung »Griechischer Frühling«
(1907). Diese ist ganz und gar imPräsens erzählt, derart, daß nicht nur Zustands
schilderungen, sondern auch jeder Schritt und Tritt des Reisevollzugs selbst
gleichsam auf den Augenblick des Sichvollziehens zurückgeführt, gewisser
maßen filmisch reproduziert wird:
Die Wendung des Weges ist erreicht. Die Straße zieht sich in einem weiten Bogen unter
mächtigen roten Felswänden hin . . . Wir schreiten die weiße Straße langsam fort. Wir
scheuchen eine anderthalb Fuß lange grüne Eidechse, die den Weg . . . überquert. Ein Esel,
klein, mit einem Berge von Ginster bepackt, begegnet uns . ..
Auf dem Faktum, daß diese Schilderung ein Ichbericht ist, beruht es, daß
die Vergangenheitsbezogenheit dieses Präsens trotz seiner zweifellos vergegen
wärtigenden Wirkung erhalten bleibt. Ja, im autobiographischen Bericht, als
dem einzigen Orte des Erzählens überhaupt, ist das Vergangenheitsbewußtsein
eben darum erhalten, weil das Präsens hier in einem echten Sinne vergegen
wärtigt. Da der Erzähler diese Vorgänge nicht während des Wanderns usw.
aufgeschrieben haben kann, tritt der historische Charakter des Präsens deutlich
hervor, wir wissen diese Reise als eine vor längerer oder kürzerer Zeit statt
gefundene. Doch wird, was das Vergangenheitsbewußtsein einer autobio
graphischen Schilderung betrifft, dennoch durch das allein herrschende Präsens
keine andere Wirkung erzeugt als in Fällen, wo es mit dem Präteritum wech
selt. Dies ist der Fall in der schon herangezogenen Goetheschen Schilderung des
74 Wunderlich-Reis, Der deutsche Satzbau, I, Stuttgart 1924, S. 235
75 So hat A. T. Rompelman in dem Aufsatz »Form und Funktion des Präteriums im Germani
schen« (Neophilologos 37 [1953]), auf das Alter des in allen indogermanischen Sprachen vor
kommenden historischen Präsens hinweisend, betont, daß ursprünglich »das bequeme Hin
überwechseln von der einen Form zur andern .. . nicht die Folge eines Mangels an Stilgefühl«
sei (S. 80) und man diesen Wechsel nicht zu einseitig temporal interpretieren dürfe. Er führt
es zurück auf die Tatsache, daß es aus einer Zeit stammt, wo auch das Präsens selbst noch
weniger ein Tempus als eine Aktionsart war.