Full text: Sitzungs-Protokolle / Verein für Baukunde in Stuttgart (1874)

groß zu nehmen und ihre Abnützung dann so weit fortschreiten zu 
lassen, wie die Praxis es noch zulässig erscheinen lassen wird, wo 
rauf sie durch neue ersetzt und auf Waggon-Rädern vollständig 
aufgebraucht werden sollen, so daß dieser Gegenstand keine beson 
dere Kosten veranlassen wird. 
Die Vorsprünge der Walze können sich ebenso gut an die 
innere Seite der Leitschienen legen, als an die äußere, so daß 
demnach ein Wechsel von Steigungen und Gefällen kein Hinder 
niß für die Anwendung des Wetli'schen Systems abgibt und eine 
Bahnlinie in beiden Richtungen anstandslos befahren werden kann. 
Beim Hinabfahren eines Gefälles gewährt an der mit einer Luft 
oder Dampfcompressions-Bremse ausgestatteten Maschine die Walze, 
da bei ihr kein Schleifen oder Schlaudern vorkommen kann, einen 
hohen Grad von Sicherheit. Selbstverständlich müßte ein längerer 
Zug außerdem noch mehrere kräftige Bremser haben und wird sich 
für dieselben die von Herrn Wetli vorgeschlagene Einrichtung, 
nämlich ähnliche Walze, wie sie die Maschine trägt, an Wagen 
angebracht und mit kräftigen Bandbremsen versehen, wahrscheinlich 
gut bewähren. 
Die bei Wüdenswyl angestellten Versuchsfahrten haben mir 
die feste Ueberzeugung von der praktischen Brauchbarkeit des Bahn 
systems gegeben. Der Gang der Maschine war ein durchaus ruhi 
ger und gleichförmiger, von dem Uebergange von einer Leitschiene 
zur andern war nicht das Mindeste zu spüren und bin ich auch 
der Ansicht, daß gegen das Aus- und Einrücken der Walze, wie 
es bei Wüdenswyl angeordnet ist, sich von Seite der Praxis nichts 
einwenden läßt. Die Versuche jedoch, welche in Betreff der Lei 
stungsfähigkeit des Systems in Bezug auf die Beförderung von 
Lasten angestellt sind, geben nach meiner Ansicht kein entscheiden 
des Resultat, da einerseits die Versuchsstrecke zu kurz und anderer 
seits die Versuchsmaschine gar zu mangelhaft construirt ist. Da 
bei mag gleich bemerkt werden, daß die Construction der Maschine 
nicht von Herrn Wetli, sondern von einem andern Techniker her 
rührt. Ein Hauptfehler der Maschine besteht darin, daß ihr Kes 
sel viel zu klein ist; in Folge dessen fällt der Dampfdruck, auch 
wenn der Maschine nur eine mäßige Belastung angehängt wird, 
sehr schnell. Für Versuche im Großen und für einen regelrechten 
Betrieb mit entsprechend schweren Zügen ist diese Maschine absolut 
nicht zu gebrauchen und liegt hier noch eine nicht so leicht zu 
lösende Aufgabe für die Maschinentechniker vor; ja es würde wohl 
nicht zu viel gesagt sein, wenn man behaupten wollte, nur dann 
habe das System Wetli eine Zukunft, wenn es gelinge, eine 
Lokomotive für dasselbe zu construiren, welche allen an dasselbe zu 
stellenden Anforderungen entspricht. 
In dieser Beziehung möge mir gestattet sein, über das Stre 
ben, an die Stelle der einfachen Adhäsion ein künstliches Hülfs 
mittel zu setzen, einige Worte zu sagen. 
Bei den gewöhnlichen Lokomotiven ergibt sich, wenn man die 
selben für eine bestimmte Zugkraft und für die übliche Fahrge 
schwindigkeit construirt, immer ein solches Gewicht, daß die Ad 
häsion der Zugkraft entspricht, daß also eine künstliche Vermehrung 
der Adhäsion überflüssig ist. Dieser Satz bewährt sich auch für 
Lokomotiven, welche starke Steigungen zu befahren haben und kann 
man mit vollem Recht im Allgemeinen sagen, daß auch für Bah 
nen mit 5°/„ Steigung, wie Herr Wetli sie für Gebirgsbahnen 
vorschlägt, das Gewicht der Lokomotive genüge, um die nöthige 
Adhäsion zu erzielen; nur für die bei schlechter Witterung ein 
tretende Verminderung der Reibung würde die Adhäsion etwas zu 
gering werden und es würde dann nur das Wetli-System es der 
Maschine ermöglichen, die volle Zugkraft auszuüben. Auf der 
anderen Seite ist aber auch zu berücksichtigen, daß bei Zunahme 
der Steilheit von Steigungen die Lasten, welche von den gewöhn 
lichen Lokomotiven befördert werden können, sehr schnell abnehmen 
und daß es also im Interesse der Praxis vor Allem darauf an 
kommt, die Zugkraft der Lokomotive für steile Rampen thunlichst 
zu vergrößern, damit die Züge, welche befördert werden, nicht zu 
klein ausfallen. Nun ist aber die Leistungsfähigkeit einer Lokomo 
tive, wie jeder anderen Maschine das Produkt von Kraft und Ge 
schwindigkeit und wenn man also die zu befördernde Last vergrö 
ßern, also die Kraft, d. h. die Zugkraft vermehren will, so kann 
es nur auf Kosten der Geschwindigkeit geschehen. Theoretisch läuft 
also die Lösung des Problems darauf hinaus, an Stelle der üb 
lichen Eisenbahnfahrgeschwindigkeit eine erheblich geringere zu setzen. 
Dadurch würde nun allerdings eine bedeutend größere Zugkraft 
zu gewinnen sein, allein dieser großen Zugkraft würde dann eine 
genügende Adhäsion nicht mehr gegenüberstehen und kommt man 
also bei ganz geringer Fahrgeschwindigkeit und bei der dieser ent 
sprechenden großen Zugkraft zu der Nothwendigkeit, durch künst 
liche Mittel sich die nöthige Adhäsion zu verschaffen und hierin 
findet eben auch das Wetli-System seine Berechtigung. Die Mei 
nung aber, bei dem Wetli-System könne man eine leichte Maschine 
anwenden und müsse eben umgekehrt auch wegen der Leichtigkeit 
der Maschine zu dem Wetli-System greifen, beruht auf einem Irr 
thum, — denn, um eine Last, welche im Eisenbahnverkehre nur 
als eine sehr müßige bezeichnet zu werden pflegt, eine Steigung 
von 5 % hinauszuschaffen, bedarf es schon einer erheblichen Zug 
kraft und um diese Zugkraft zu erzeugen, hat man viel Dampf 
und also einen starken Kessel und kräftige Maschinenorgane nöthig; 
ein starker Kessel mit einer kräftigen Maschine wird aber immer 
ein bedeutendes Gewicht besitzen. — Von der Kraft der Maschine 
wird nun aber auch das Befördern ihres eigenen Gewichts einen 
nicht unbedeutenden Theil absorbiren und so wird man um so 
mehr genöthigt sein, durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit 
Zugkraft zu gewinnen und wird wohl von der Disposition der ge 
wöhnlichen Lokomotive, mit welcher dieser Forderung nicht gut ent 
sprochen werden kann, abgehen müssen und zu Kraftübersetzungen 
oder anderen derartigen Mitteln greifen und vielleicht noch man 
cherlei Versuche anstellen müssen, bis man eine ganz entsprechende 
Construktion gefunden haben wird. — 
Der durch Anwendung des Wetli-Systems zu erreichende Vor 
theil liegt vor Allem darin, daß die Bahnlinie sich direkt der 
Thalsohle anschmiegen kann, statt durch Ausbiegungen in Seiten 
thäler und mittelst kostspieliger Bauten aller Art ein schwächeres 
Steigungsmaß zu suchen, welches den natürlichen Verhältnissen nicht 
entspricht; durch den vereinfachten Bau und die Abkürzung der 
Linie müssen die Baukosten in außerordentlicher Weise reducirt und 
die Bauzeiten bedeutend vermindert werden, so daß Bahnlinien, 
welche bei dem gewöhnlichen Systeme unrentabel bleiben müssen, 
noch mit Vortheil gebaut werden könnten. Auch die Betriebskosten 
werden bei einer steilen Bahn, welche nach dem Wetli-System ge 
baut ist, etwas billiger ausfallen, als auf einer weniger steilen, 
zwischen den gleichen Endpunkten liegenden Linie; bei beiden muß
	        

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