Beilage 6.
Der „Chemin de fer glissant“ auf der Mriser Weltausstellung 1889.
Auszug aus dem Vortrag vou Ingenieur Lueger.
In der auf der Psplanadc des Invalide« befindlichen Ab
teilung der Pariser Weltausstellung vom Jahre 1889 befand
sich längs der nie Constantine und in unmittelbarster Nähe
dieser Straße eine eigentümliche Eisenbahnanlage — der chemin
de fer glissant. Herr Ingenieur A. Barre hatte sie erbaut
nach einem System, welches in ähnlicher Weise früher schon von
dem bekannten Ingenieur Girard erfunden war.
Das Wesen des chemin de fer glissant besteht darin, daß
auf dm Schienen sich keine Räder bewegen, sondern nur mit
Wasser gefüllte Gleitschuhe, welche während des Betriebes sich
um ca. Va mm über die sehr breitköpfigen Schienen erheben,
zwischen sich und den Schienen einen Wasserkörper herstellen und
alsdann mit dem Bahnzuge ohne bemerkenswerte Reibung ans
den Schienen fortrutschen (gleiten). Den Anstoß und den wei-
tercn Trieb zu diesem Fortrutschen bewirkt Wasserkraft. In be
stimmten — der kürzesten Zuglänge angepaßten — Entfernungen
sind als Motoren Druckständer angeordnet, deren Wasser gegen
ein in der Längsachse unter den Wagen des Bahnzuges und an
denselben angebrachtes geradlinig fortgesetztes Schaufelsystem in
ähnlicher Weise wirkt, wie das in ein Tangentialrad einströmende
Wasser gegen den Leitschaufelapparat des letzteren.
Die Gleitschuhe sind an den Schienen geführt und es
strömt aus denselben während des Betriebes Druckwasser ab,
das einem auf dem Zuge befindlichen, unter möglichst konstanter
Pressung erhaltenen Tender entnommen wird. Die Druckständer
erhalten das zur Beschleunigung des Zuges erforderliche Trieb
wasser von einer neben oder unter der Bahn angeordneten Wasser
leitung ; indessen ist es auch, wie z. B. bei Bergbahnen, möglich,
die Beschleunigung des Zuges durch Seilbctrieb zu erteilen,
wobei dann nur das aus den Gleitschuhen abströmende Wasser
zum Verbrauche gelangt.
Auf eine nähere Beschreibung der Details der Anlage,
welche in meinem Vortrage erfolgt ist, kann ich hier um so mehr
verzichten, als solche Beschreibungen in neuerer Zeit mehrfach
in Zeitschriften sich vorfinden. Die meisten sind abgeleitet aus der
Broschüre: Notice sur le chemin de fer glissant a propulsion
hydraulique, Systeme L. D. Girard, perfectionne par A. Barre,
Paris 1889, welche während der Ausstellung käuflich war, und
ans dem Buche: L’exposition de Paris, 2. Bd. S. 37, Paris
1889. In der erstgenannten Broschüre ist eine genaue Aus
einandersetzung und eine, wenn auch nicht umfassende, doch für
das Begreifen des Systems ausreichende Detailbeschreibung ge
geben; das Buch l’exposition de Paris giebt ein Bild des auf
der Weltausstellung im Betriebe gewesenen Bahnzuges.
Als Vorteile, welche jeder Besucher der Ausstellung bei
Benützung dieser Bahn sofort erkennen mußte, führe ich an:
das angenehme, ohne jegliche Erschütterung und Geräusch sich
vollziehende sanfte Fahren, die große Fahrgeschwindigkeit, die
j Abwesenheit jeglichen Rauches und Dampfes, die Möglichkeit
sofortigen Anhaltens in jeder Lage durch Absperren des Wasser-
zuflusses zu den Gleitschuhen, die Unmöglichkeit einer Entgleisung,
das Wegfallen jeder Schmierung und Bremsvorrichtung, die
Leichtigkeit der Wagenkonstruktion und die Fähigkeit des Zuges,
starke Steigungen ohne Beschwer zu überwinden.
Die Nachteile des Systems bestehen meines Erachtens in
dem großen Wasserbedarfs zum Betriebe, den sehr bedeutenden
Anlagekosten der Bahn und de» Frostwirkungen unseres Klimas
auf den Winterbetrieb. Daß sich indessen in dieser Richtung so
wohl als auch hinsichtlich der Details an den Konstruktionen
noch Fortschritte ergeben können, welche die Nachteile zurücktreten
lassen, will ich damit nicht bestreiten.
Ob von der gesamten Disposition eine Anwendung im
Großen gemacht und ob sich diese bewähren wird, bleibt abzu
warten. Die Erfindung selbst ist sehr hübsch, und daß man sie
I im kleinen zu einem recht angenehmen Verkehrsmittel gestalten
j kann, ist durch die Ausstellungsbahn bewiesen. Zur Ausführung
von Bahnen dieser Art hat sich in Paris eine Gesellschaft
gebildet unter der Firma: Societe de ton datiern des ehern ins
de fer glissants perfectionnes, me Taithont 49, Paris.
Stuttgart, den 15. März 1890. Lueger.