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Wie die Pläne der verschiedenen Städte zeigen, ist das Recht
eckschema nur selten in voller Reinheit vorhanden; zum Glück fordert
häufig die Richtung eines Flusses oder schon bestehende Straßen
züge die Aenderung des Systems und so zeigt selbst Chicago einige
schräg gerichtete Avenues, am unregelmäßigsten ist noch das alte
Stadtviertel von NewDork, zunächst dem Castle Garden. Den
größten Unterschied gegenüber den gewöhnlichen Städten bezüglich
des Straßenschemas bietet aber Washington, die Bundesstadt, welche
zwar auch nach dem Rechtecksystem angelegt, aber mit breiten Avenues
in schräger Richtung durchschnitten ist. Die Straßen sind sehr breit,
fast durchgängig mit Bäumen besetzt, die kleinen Dreiecke, welche in
den schiefen Schnitten entstehen, sind immer als kleine Parks aus
gebildet, überhaupt viele kleinere Parks in der Stadt verteilt, während
in andern Städten diese wohl auch vorhanden, aber in großer Ent
fernung vom Stadtkern gelegen sind.
Diese schöne Stadt macht mit ihren ausnahmsweise reinlich ge
haltenen und sorgfältig mit Asphalt belegten Straßen einen prächtigen
Eindruck, und lade ich Sie zum Schluß meines Vortrags ein, den
Besuch der schönen Stadt bei Gelegenheit nicht zu versäumen (vergl.
Fig- 14).
Kurz erwähnen will ich noch die Hochbahnen, welche in New-
Aork bekanntlich in den Straßen zur Ausführung gekommen sind.
Dieselben sind für New Jork eine Notwendigkeit, da die Trambahnen
viel zu langsam fahren, um den Verkehr zwischen der an der Süd
spitze der Manhattaninsel liegenden Geschäftsstadt und den bis
12 Meilen entfernten Wohnquartieren in ausreichender Weise ver
mitteln zu können. Für die Hausbesitzer ist die Einrichtung sehr
störend, man hat deshalb in Chicago begonnen, Hochbahnen in die
Häuserblocks einzulegen, so daß die Straßen freibleiben.
Ich habe im Vorausgegangenen einen rohen Umriß des ame
rikanischen Landes und Volkes zu geben versucht; anmutig ist das
Bild in der Regel nicht, aber aufs Große oder besser gesagt Grobe
zugeschnitten wie das Land selbst und entbehrt dasselbe eines ge
wissen Reizes so wenig wie das russische Steppenland. Es wird
wohl möglich sein, anknüpfend an den gegebenen Rahmen, einzelne
Maschen desselben später weiter auszufüllen, so daß auch die ame
rikanischen Bauten, die ich nur kurz berühren konnte, in ihrer
charakteristischen Eigentümlichkeit zur Anschauung kommen.
Gestatten Sie mir, nun zum Schluß eine kleine Reisebeschreib-
ung anzufügen:
Die Reise hat mich über Antwerpen geführt, die 2 Tage längere
Fahrt wird durch geringere Reisekosten und große Sicherheit der
Red star line ausgewogen. Poseidon war mir außerordentlich
günstig, trotz heftigen Schwankens des Schiffes bei Wind habe ich
von Seekrankheit nichts verspürt. Die starken Bewegungen hatten
aber unter anderem zur Folge, daß ein kleiner Weltbürger, ein
Mädchen, etwas zu früh auf dem Meer das Licht der Welt erblickt
hat und nach dem Schiff Margarethe Rhynland getauft wurde. In
New Jork augekomnien, habe ich mich in Jersey City einquartiert
und zuerst mich bestrebt, inich an amerikanische Sitten zu gewöhnen,
was dank einiger unterwegs gemachter Bekanntschaften rasch vor sich
ging. Es wurde mir auch beigebracht, beim Kreuzen der überfüllten
Straßen recht langsam zu gehen, weil sicherer, die Rast River-
Brücke wurde abgegangen, Kneipen, Absteigequartiere der Aus
wanderer (Stuttgarter Hof) besucht u. a.
Nach etwa 4 Tagen, als ich einigermaßen amerikanisiert war,
mich also nicht mehr als ganz grün betrachten durfte, machte ich
mich allein auf den Weg den Hudson hinauf mit einem der Pracht
dampfer mit 3 Decks, er trug so gegen 2000 Personen, welche den
Festtag des 4. Juli (Unabhängigkeitserklärung) zu Ausflügen be
nutzten. Ich hielt mich an das untere (4.) Deck, wo die Rar auf
gestellt ist und wurde hier gleich von einem Landsmann (Dr. Stickel)
in Beschlag genommen, der mir bei der Rückkehr nach New Zjork
große Dienste geleistet hat. In Albany angekommen und am
Landungsplatz ausgestiegen, fiel mir plötzlich ein, daß ich vergessen
hatte, im Bädeker mir ein Hotel zu merken, und so wandte ich niich
demjenigen Omnibus zu, dessen Kondukteur am lautesten den Namen
seines Hotels ausrief. Ich kam so in das Hotel Kenmore, das sich
als das vornehmste der Stadt herausstellte und wo ich für 4 Dollars
prächtig verpflegt war. Sie kennen Albany aus der Beschreibung
des Herrn Kollegen Tritschler und so begleiten Sie mich nach '
Norden, wo ich einige Plätze aufsuchte, die wohl kein Amerikafahrer
außer mir besucht haben wird, nämlich die Brunnenstadt Saratoga
(wo Sommers die vornehme amerikanische Welt sich sammelt, wie
etwa bei uns in Baden-Baden), den St. Georgesee und den Otsego-
see, wo noch Wälder fast urwüchsig zu sehen sind, wie sie Cooper
in seinen Novellen Tire deerslayer, the last of the Mohicans
so schön beschrieben hat. In Utica gelangte ich wieder in das Land
der Zivilisation, der Hudson-Eriekaual kreuzt die Stadt und hier habe
ich die ersten Brückenstudien gemacht, von denen vielleicht später.
Dann gings nach Buffalo und Niagara-Falls. Der Fall kam mir
recht gemütlich vor, nur ärgerte mich, wie schon in meinen Jugend
jahren, daß so viel Wasserkraft unnütz zu Thal fließt, und war sehr
erfreut, zu vernehmen, daß eine Gesellschaft auf amerikanischer Seite
zur Entnahme von 100000, auf kanadischer zu 250000 Pferde
kräften konzessioniert ist, und daß die Werke auf amerikanischer Seite
schon weit vorgeschritten sind, daß man aber noch nicht weiß, was
mit der Kraft anzufangen. Niagara ist eine sehr vernachlässigte
Stadt, um so hübscher Detroit am Flusse St. Claire, der den Huron-
mit dem Eriesee verbindet. Der Eisenbahnzug wird hier mittelst eines
Zgeleisigen Fährbootes (des größten der Welt) von der kanadischen
Seite nach Detroit übergesetzt. In jeder der genannten Städte habe
ich mich einige Tage aufgehalten, technische und andre Studien ge
macht, am 15. Juli endlich kam ich nach Chicago (am Sonntag),
besuchte sofort die Ausstellung und bekam als ersten Eindruck den,
daß der See der schönste Teil derselben sei. Später habe ich noch
weitere schöne Abteilungen kennen gelernt, die Midway Plaisance
(deutsch das Cannstatter Volkfeft), mit Hagenbecks Tierbändigern,
Rutschbahn (Eisbahn), das Ferry Wheel, den Konkurrenten des
Eiffelturms, das chinesische Theater, deutsches Dorf und Altwien,
Nürnberger Würstel auch nicht zu vergessen. Bei vierwöchigem Auf
enthalt in Chicago habe ich auch die Schönheiten der Stadt studiert,
die prächtigen Parks, aber auch den Straßenschmutz, das elende
Holzpflaster, gegen welches das in der Ludwigsburgerstraße hier als
Musterleistung bezeichnet werden kann. Ich war froh, als ich der
Stadt den Rücken kehren konnte, und wohlgeborgen im Pullman-
Car auf der Northern Pacific dem Westen zueilte. Nach langem
Zögern hatte ich mich entschieden, nicht direkt nach Haus zu gehen,
wie wohl die meisten meiner Kollegen gethan haben, sondern von
hier dem Stillen Ozean einen Besuch abzustatten. Es gehen fünf
Linien dorthin, ich entschied mich auf Rat meiner Freunde für die
Northern Pacific, namentlich nachdem mich der Ingenieur dieser
Bahn (Hilgard) versichert hatte, daß diese Bahn schon Ortschaften
aufzuweisen habe, während die neueste der Bahnen, die Great
Northern, diese erst bekommen müsse!
Wie mit der Bahn erst die Städte entstehen, habe ich hier
studiert und verweise auf meine Aufsätze im Merkur; wegen Zeitmangels
habe ich nur besucht St. Paul am Mississippi, bis wohin der Fluß
schiffbar ist (Abstand von der Mündung ca. 1500 Meilen —
2400 Kilometer), dann die neuen Städte Tacoma, Seattle und Port
land, welche in der Zeit von 12 Jahren von einigen Hundert Ein
wohnern auf 40 000—60000 angewachsen sind. Die Fahrt von
Tacoma südlich nach S. Francisco und Monterey gehört zu den
interessantesten: herrliche Wälder, Hopfen, Wein, Obst jeder Art ge
deihen in dem warmen Klima bei genügendem Regenfall, die schöne
Lage von S. Francisco mit dem Seelöwenfelsen, dem prachtvollen
Park von Golden Gate bleiben unvergeßlich.
Bei der Abreise von S. Francisco wurde es mir zum ersten
mal etwas schwül ums Herz, wenn ich die kolossale Entfernung von
der Heimat überdachte und mit Freuden erfüllten mich die ersten
durchfahrenen 1000 Meilen, bezw. die Notwendigkeit, an der Wechsel
station meine Uhr um 1 Stunde vorzurücken. In Salt Lake City,
der Mormonenstadt, erquickte mich ein Bad in dem ca. 10 Meilen
entfernten Salzsee (22 °/o Salzgehalt) derart, daß ich lange kein
Bedürfnis zum Baden mehr empfand, das Wasser schmeckt aber
abscheulich. Vom nächsten Haltpunkt Colorado Springs aus machte
ich eineu Ausflug auf den Pikes Peak mit Zahnradbahn 14170'
hoch, (höher als die Jungfrau). Mit etwas Bergkrankheit kam ich
davon, ohne bleibende Nachteile. Nach einem Besuch in Denver,
der Minenstadt, ging es über Kansas City (der Hauptteil der Stadt