Full text: Monatsschrift des Württembg. Vereins für Baukunde in Stuttgart (1898-1904)

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Schwere der verdorbenen Luft ganz außer acht läßt und vergißt, 
daß diese niemals durch den bloßen Temperaturunterschied, wie er 
hier vorhanden ist, sich überwältigen läßt, was man stets auch in 
geheizten Räumen wahrnehmen kann, sondern daß hier nur ein 
kräftiger Luftzug Abhilfe schafft, der aber wieder einzig und allein 
durch die größeren Gebäudeabstände in Wirksamkeit treten kann. 
So ist in dem Gutachten, welches Dr. Rettich im Auftrag und 
im Sinne des Stadtvorstandes abgegeben hat, weder zahlenmäßig 
irgendwie glaubhaft nachgewiesen, daß der angegriffene Stadterweiter- 
ungs-Entwurf mit der weiträumigen Anordnung der Gebäude die 
Wohnungen verteuert, noch konnte es gelingen, die geschlossene Bau 
weise als eine gesundheitlich empfehlenswerte darzustellen. Die Un 
zulänglichkeit der Beweismittel in der Denkschrift ergiebt sich auch 
daraus, daß Rettich trotz der vorgeschlagenen Zusammendrängung der 
Bewohner in die auch an den Thalhängen hinauf fortgesetzten eng 
bebauten Straßen gegenüber der offenen Bauweise nur auf wenig 
Jahrzehnte länger Raum übrig hat für den normalen Zuwachs, der 
nach den seitherigen Brobachtungen in Stuttgart vorauszusehen ist. 
Ob die Eingemeindung weiterer Gebiete, welche auch Rettich 
als unbedingte Notwendigkeit anerkennt, etwas früher oder später 
durchgeführt werden muß — sie hat ja für Stuttgart schon begonnen 
und wird demnächst auch auf dem für Industrie und Handel günstig 
gelegenen Thalgebiete der Markung Cannstatt fortgesetzt werden — 
kann für die Entwicklung nicht in Betracht kommen. 
Viel schwerer würde es ins Gewicht fallen, wenn Stuttgart durch 
Einführung einer geschlossenen Bauart an den Thalseiten hinauf bis 
am die Höhen der anschließenden Rücken und Hochflächen sich nicht 
nur zu einem gesundheitlich minderwertigen Wohnplatz Herabdrücken 
würde, sondern wenn es auch um den schnöden Preis, etwas früher 
200000 Menschen mehr zu beherbergen, dieselben aber dann in öden 
Mietskasernen zusammengedrängt zu sehen, auch noch auf den Schmuck 
der Gärten und der öffentlichen Anlagen, der schönen leicht erreich 
baren Aussichtspunkte und der charakteristisch und künstlerisch durch 
gebildeten Wohnstätten beinahe ganz verzichten müßte. 
Nicht um Erhaltung des landschaftlichen Charakters der Um 
gebung handelt es sich, wie Rettich durchaus unrichtig annimmt; das 
ist selbstverständlich, daß der landschaftliche Charakter einer Gegend 
verloren gehen muß, wenn dieselbe zum Stadtgebiet wird. Aber 
darum handelt es sich, daß das Städtebild nicht eine tote Steinmasse 
zeigt, daß überall, wo es angeht, und das ist in den Wohnbezirken 
jeder Stadt der Fall, der Natur und der Gartenkunst Gelegenheit 
gegeben wird, ihre Schwingen zu entfalten, die Härten und Unzu 
träglichkeiten, welche das Zusammenwohnen vieler Menschen mit sich 
briugt, zu mildern und jene herzerfreuenden Bilder zu schaffen, die 
allein durch inniges Zusammenwirken von Baukunst und Natur ent 
stehen können und die nicht nur ein Gut des Besitzers und Benützers 
sind, sondern die zum Allgemeingut werden, weil es auch den Vor- 
übergehehenden aus der Nähe und aus der Ferne erquickt, wen.! die 
edlen Formen eines Gebäudes harmonisch herauswachsen aus präch 
tigen Baumgestalten und blühenden Gebüschen, aus denen Vogelgesang 
hervortönt, und die in dieser Vollkommenheit nur in Privatgänen 
und nicht in öffentlichen Anlagen gepflegt werden können, oder wenn 
ein herrlicher Blumenflor das Auge erfreut. Wo bleiben diese An 
lagen, wenn enggeschlossen und hoch auch in den Außenbezirkeu ge 
baut wird, und was dann, lvenn das schöne Stuttgarter Thal mit 
solchen Steinkolossen vollgepfropft ist und in der Umgebung überall 
die Schornsteine rauchen? Wahrlich, ein wenig erfreuliches Zukunfts 
bild für die Mitte des neuen Jahrhunderts. 
Besonders ist aber noch darauf hinzuweisen, daß die offene 
Bauweise nicht nur für Villenquartiere geeignet und notwendig ist, 
sondern daß die Arbeiterwohnungen in noch hervorragenderem Maße 
eine solche bedürfen. Falsch ist es überhaupt, hier eine willkürliche 
Trennung von Wohnquartieren nach Gesellschaftsklassen zu machen; 
diese Trennung tritt von selbst ein, und die Stadtverwaltung hat im 
Gegenteil die Aufgabe, die Schärfe derselben wo immer möglich zu 
mildern und zu beseitigen. Viele Städte, z. B. Ulm, haben mit 
diesem System schon vorzügliche Ergebnisse erzielt und zwar dadurch, 
daß frischweg die Stadtverwaltungen selbst den Bau der Arbeiter- 
wohnhäuser in Angriff genommen und hiermit der besonders in dieser 
Richtung durchaus unzulässigen Spekulation mit den Bauplätzen und 
mit den Bauten selbst die Spitze abgebrochen haben. 
Der Zwiespalt, der durch dieses Vorgehen des Stuttgarter 
Stadtvorstandes und seines Gemeinderates in die Kreise der Haupt- 
und Residenzstadt Stuttgart getragen worden ist, hat aber deshalb 
ein allgemeines Interesse, weil es dringend notwendig erscheint, solche 
Uebergriffe auf das Gebiet des Architekten und Ingenieurs, sowie 
des Hygienikers auf das entschiedenste zurückzuweisen. Die dadurch 
entstehenden Fehler werden schließlich doch dem Techniker aufgebürdet, 
da sich derartige Einflüsse später leicht zu verbergen in der Lage sind 
und gewöhnlich dem ausführenden Techniker, wenigstens in den Augen 
der Menge, die volle Verantwortung zufällt. Aber nicht nur im 
Interesse der städtischen Techniker, hauptsächlich zu Gunsten der Ent 
wicklung unserer Städte sind diese Anschauungen zu bekämpfen; denn 
manche Beispiele zeigen schon, daß derartige Fehler sich in den ge 
sundheitlichen Verhältnissen bitter rächen und schwer oder niemals 
wieder gut zu machen sind. 
Personalnachrichten. 
Straßenbauinspektor Baurat Stapf ist aufseinen Wunsch von 
Ellwangen nach Ravensburg versetzt worden. 
Den Regierungsbaumeistern Beißwänger und Burger in 
Stuttgart wurden die erledigten Jnspektorstellen bei der Gebäude 
brandversicherungsanstalt übertragen und denselben der Titel und 
Rang eines Bauinspektors verliehen. 
Regieruugsbaumeister Buck bei der K. Domänendirektion wurde 
seinem Ansuchen entsprechend aus dem Staatsdienst entlassen. 
Heran«,egeden »am Würtlemd. Verein für Santinnde. Für denselben! Vanlnspektor Aeitzling. — Drück non Alfred Müller * fflo. — verlaa non S. Weil»', 
Hofbnchhandlnng, sämtlich l« Ltnttgarl.
	        

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