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Monatsschrift des Württembg. Vereins für Baukunde in Stuttgart.
Ingelheim, und die Sage geht auch, dass Karl daselbst geboren
sei. Urkundlich erscheint der grosse Kaiser erstmals im Jahr
774 dort, im Jahr 787 feiert er das Weihnachtsfest, und das
Jahr darauf fand die denkwürdige Reichsversammlung hier
statt, auf der Thassilo verurteilt ward. Die Menge der An
wesenden kann von der Grösse der alten merovingischen Palast
anlagen einen ungefähren Begriff geben. Nicht nur die Grossen
des Reichs mit ihren Vasallen waren besonders eingeladen;
vertreten waren, wie die Lorscher Annalen ausdrücklich berichten,
neben den Franken auch die Sachsen, Bayern und Langobarden.
807 hält der Kaiser einen zweiten Reichstag in Ingelheim mit
Bischöfen, Grafen und den übrigen Getreuen. Das Bedürfnis
nach einem umfassenden Neubau mochte auf den beiden Ver
sammlungen schreiend hetvorgetreten sein, und man darf daher
den Beginn des Neubaues und seine äussere Vollendung noch
in die letzten Regierungsjahre Karls setzen; die künstlerische
Ausschmückung ist jedoch ein Werk Ludwigs des Frommen.
Ermoldus Nigellus, ein Benediktiner-Abt, den Ludwig der Fromfne
nach Strassburg verbannt hatte, beschreibt den Palast in seinem
Lobgedicht auf den Kaiser also:
„Dort am Strom des reissenden Rheins ist gelegen die Stätte,
Welche geschmückt mit Pracht, welche mit Festen verklärt,
Wo sich erhebet das Haus mit ioo Säulen gefestet;
Viele Thore zugleich, vielerlei Wohnungen auch,
Tausend Pforten und Thüren und tausend Verschlüsse der Säle
Sie sind hier durch das Geschick künstlicher Meister gebaut.“
und E. Wörner unzweifelhaft geworden, aus den Steinbrüchen
auf dem Felsberg an der Bergstrasse. Dass es Römer gewesen,
die die gewaltigen Steinbrüche an der Bergstrasse angelegt haben,
beweist das Uebereinstimmen der Technik in der Gewinnung
der Säulen mit dem römischen, auch bei der Gewinnung der
egyptischen Granitsäulen geübten Verfahren und deren Be
schreibung in der noch im vierten Jahrhundert entstandenen
Passio quatuor coranotorium.
Der „Saal“ von Ingelheim liegt auf einem Hügelvorsprung,
der nach Norden sanft zum Rheinthal und nach Osten ebenso
in eine kurze Thalmulde abfällt; auf der Süd- und Westseite
durch einen tiefen Graben vom Dorf getrennt, bildet der Saal
in seiner Hauptform ein Viereck von 300 Schritt Länge und
230 Schritt Breite. Die Westseite nehmen die Grundstücke und
Gebäude des ehern. Palastes ein, daran schliesst sich rechts die
alte Befestigungsmauer, Rentmauer genannt, an, von welcher f
auf der Südwestecke ein runder Turm, der „Boiander“ her- 1
austritt (s. den Situationsplan Fig. 4).
Fig. 6. Details aus Ingelheim.
Auf der Südseite ist die Mauer noch stellenweise gut er
halten, an den übrigen Seiten fehlt grösstenteils die Mauer, !
drei jetzt zerstörte Thore waren in derselben angebracht. Die
erhaltenen Reste des Palatiums bestehen noch in der 18,40 m
langen Ostmauer der Basilika, dem eigentlichen Fest- und Ver
sammlungsraum, mit der noch zum grössten Teil stehenden
Absidenmauer in der Höhe von 6—7 m, einem Teil der süd
lichen Giebelmauer mit dem Kämpfergesims des Triumphbogens
(s. Fig. 5) und den Spuren von drei Fenstern in der Absis, nebst j
einer vermauerten Thüre. Bis zum Jahr 1875 stand an der Nord
front des Gebäudes, auf den alten Fundamenten das im 16. Jahr
hundert erbaute Schaffnereigebäude; bei dessen Abbruch fanden
sich die Reste von drei nebeneinanderstehenden Tonnengewölben,
welche offenbar karolingischen Ursprungs sind und als die
ehemaligen Eingangsthore in das Palatium anzusehen sind. In
dem daranstossenden Keller befand sich ein schon durch die
Untersuchungen Cohausens bekannter halbrunder Ausbau, welcher
sich als nicht karolingisch erwies, da in demselben verschiedene
zweifellos karolingische Skulpturfragmente eingemauert waren.
50 Meter von der Ostmauer der Basilika entfernt befindet sich
die Kirche, jetzt in ihrem Schiff bedeutend verkürzt; ihre Lage
bezeugt, dass sie einst zur Palastanlage in innigem Zusammen-
Schnift durch die Kanelluren
Figur 5. Details aus Ingelheim.
Diese poetische Schilderung ist jedoch wenig genau und
reich an Plagiaten : die 100 Säulen entnahm er des Vergils
Aeneis und die Thore den Metamorphosen des Ovid. Von
den Kirchen heisst es weiter:
„Dort sind die Kirchen des Herrn mit besten Metallen errichtet,
Ehern die Pfosten sind, golden die Thüren zumal:
Gottes erhabene Thaten, der Männer ruhmvolles Wirken
Zeigen in herrlicher Kunst prachtvolle Bilder daselbst. ‘
Auch der Poeta Saxo, der unter Arnulph schrieb, bietet
wenig:
Ingelheim heisst der Ort, wo Karl erbauet sich den Prachthof,
Wie nicht gleichen fürwahr unsere Zeiten geseh’n.
Roma gab zu dem Baue die marmornen Säulen, Ravenna
Fügte von seiner Pracht herrliche Zierden noch bei,
Dir, o Francia, konnte aus jener entlegenen Gegend,
Was einst diese geschmückt, bringen des Kaisers Gewalt“.
Aber auch darin irrt sich der Poet, wenn er angibt, die
Säulen seien aus Rom und Ravenna gekommen; die darauf
bezügliche Stelle bei Einhard spricht nur von Aachen, und auch
der öfter angeführte Brief von Papst Hadrian I. erwähnt zwei
mal ausdrücklich nur mosivo atque marmores. Die Säulen
bestehen nämlich aus hessischem Syenit und stammen, was erst
durch die durchschlagenden Untersuchungen von A. v. Cohausen
riafürl. Gr
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