Die fiktionale oder mimetiscbe Gattung
Es ist zu denken an stark reflektorisches Erzählen, das mehr oder weniger
unmittelbar Handlung und Personen interpretiert: erklärt, deutet, größere
Zusammenhänge hinter ihnen eröffnet und damit oftmals ‘von der Sache
abzuschweifen’ scheint. Aber gerade wenn wir nun auch diese Erzählart
näher ins Auge fassen, erschließt sich das Wesen des fiktionalen Erzählens
in seinem kategorialen Unterschied vom historischen immer deutlicher. Es
gilt gerade in diesen Zusammenhängen, sich nicht durch den Eindruck
täuschen zu lassen. Dies geschieht leicht, wenn man nicht zu den Struktur
elementen vordringt. Es seien wiederum ein paar Beispiele vorgeführt:
Beispiel I:
Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen Verhältnisse, und er fühlte
sich nicht wenig beunruhigt. Der Mensch kann in keine gefährlichere Lage versetzt wer
den, als wenn durch äußere Umstände eine große Veränderung seines Zustandes bewirkt
wird, ohne daß seine Art zu denken und zu empfinden darauf vorbereitet ist. Es gibt als
dann eine Epoche ohne Epoche, und es entsteht nur ein desto größerer Widerspruch, je
weniger der Mensch bemerkt, daß er zu dem neuen Zustande noch nicht ausgebildet sei.
Wilhelm sah sich in einem Augenblicke frei, in welchem er mit sich selbst noch lange
nicht einig werden konnte. Seine Gesinnungen waren edel, seine Absichten lauter.. .
(Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre)
Beispiel 2 :
»... nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen
die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich Zu zerstören suchen,
hält sie die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor . . .«
(Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre)
Beispiel 3 :
Wenn Ulrich hätte sagen sollen, wie er eigentlich sei, er wäre in Verlegenheit geraten —
War er ein starker Mensch ? Das wußte er nicht, darüber befand er sich vielleicht in einem
verhängnisvollen Irrtum. Aber sicher war er immer ein Mensch gewesen, der seiner Kraft
vertraute. Auch jetzt zweifelte er nicht daran, daß dieser Unterschied zwischen dem Haben
der eigenen Erlebnisse und Eigenschaften und ihrem Fremdbleiben nur ein Haltungsunter
schied sei. . . Ganz einfach gesprochen, man kann sich zu den Dingen, die einem wider
fahren oder die man tut, mehr allgemein oder mehr persönlich verhalten. Man kann einen
Schlag außer als Schmerz auch als Kränkung empfinden, wodurch er unerträglich wächst;
aber man kann ihn auch sportlich aufnehmen, als ein Hindernis . . . Und gerade diese Er
scheinung, daß ein Erlebnis seine Bedeutung... erst durch seine Stellung in einer Kette
folgerichtiger Handlungen erhält, zeigt jeder Mensch, der es nicht als ein nur persönliches
Geschehnis, sondern als eine Herausforderung seiner geistigen Kraft ansieht. ..
(Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften)
Diese drei Texte, die sich beliebig vermehren ließen, haben dies gemein
sam, daß sie auf eine reflektorische Weise ‘weitschweifig’ sind. Sind sie auch
abschweifend ? Schweifen sie ‘von der Sache’ ab und würde man in die Ver