Die fiktionale oder mimetische Gattung
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angebbaren und eindeutigen Bestimmung. Im Roman >Wilhelm Meisten
können wir die Person Wilhelm Meister nicht von dem Erzählen dieser
Person trennen. Denn er ist keine Person, von der etwas erzählt wird. Hier
ist die Betrachtung, die sich an den Satz knüpft, daß er sich nun bald seinen
eigenen Verhältnissen zuwandte und sich nicht wenig beunruhigt fühlte,
keine subjektive Reflexion und Abschweifung eines Berichters, die nur mit
diesem selbst, aber nicht mit Wilhelm etwas zu tun hätte. Sondern sie dient
der Gestaltung der Wilhelm-Gestalt ganz ebenso wie Angaben über sein
Tun, Sagen und Denken. Ebensowenig wie wir in dem Satze »Wilhelms
Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen Verhältnisse«, oder
etwa dem konkreten Situationssatze aus demselben Roman »Der Graf bot
seiner Gemahlin die Hand und führte sie hinunter« (3. Buch, 2. Kap.) einen
‘Erzähler’ von dem, was oder wovon er erzählt, unterscheiden können, läßt
sich auch bei dem reflektorischen Satze eine solche Grenze nicht angeben.
Wie sich dies logisch verhält, wird noch deutlicher, wenn wir das Beispiel 1
mit dem Beispiel 3, der Stelle aus dem Roman unserer Zeit, Musils >Mann
ohne Eigenschaften« vergleichen.
Diese Stelle ist von ähnlicher Art wie die Wilhelm-Meister-Stelle. Auch
hier geht die Erzählung von der unmittelbaren Bezugnahme auf die Person
Ulrich in eine Erörterung allgemeiner Verhältnisse und Probleme über,
etwa von dem Satze an: »Ganz einfach gesprochen, man kann sich zu den
Dingen, die einem widerfahren, oder die man tut, mehr allgemein oder mehr
persönlich verhalten«. Wir bemerken einen gewissen Unterschied zwischen
dem älteren und dem modernen Text. Er besteht darin, daß in dem letzteren
die allgemeinen Reflexionen gewissermaßen enger und inniger mit der Per
son Ulrich Zusammenhängen scheinen als diejenigen des Wilhelm Meister-
Textes mit der Person Wilhelm. Obwohl in den späteren Sätzen der Musil
stelle an sich ebensowenig wie in der Goethestelle Bezug auf die Gedanken
der geschilderten Person genommen ist, erscheinen sie dort doch mehr als
Ulrichs Gedanken, als die Sätze der Meister-Stelle als diejenigen Wilhelms
erscheinen. Aber dieser Unterschied ist kein prinzipieller, sondern nur ein
solcher des Stils. Er verrät uns unmittelbar, daß der Musilsche Roman mo
derner ist als der Goethesche. Wir wiesen schon mehrfach darauf hin, daß
die Mittel der fiktionalisierenden Schilderung sich im Laufe des 19. Jahr
hunderts immer feiner ausgebildet hatten, die Darstellung des inneren Da
seins immer mehr mit den Mitteln direkter Subjektivierung der Gestalten
arbeitete, das heißt die fiktive Ich-Originität der fiktiven Personen immer
deutlicher herausgebildet wurde bis zu den kühnen Mitteln eines Joyce.
Wenn aber auch der Satz »Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf
seine eigenen Verhältnisse und er fühlte sich nicht wenig beunruhigt« mehr
den Stil einer Aussage im eigentlichen Sinne hat als der Satz: »Wenn Ulrich