Die epische Fiktion
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uns nun, und zwar natürlich nicht zufällig, sondern in engem Zusammen
hang mit diesen Verhältnissen, zur Erkenntnis der fiktionalen Erzählfunk
tion selbst. Es ist schon mehrfach beobachtet worden, daß sich die Form der
erlebten Rede nicht immer deutlich von der ‘Stimme des Erzählers’ unter
scheiden läßt, d.h. die Grenze, wo dieser sozusagen zu reden aufhört und
sein Wort an die Gestalten abgibt, nicht immer genau anzugeben ist 49 50 . Die
Untersuchungen, die über das Vorkommen dieser Form in der mittelalter
lichen Dichtung gemacht worden sind 60 , mußten sich gerade auf dieser
Grenze bewegen, weil dort zweifellos die erlebte Rede noch nicht zu einer
bewußten Technik ausgebaut war, sondern gewissermaßen dem Erzähler
unterlief. Sie konnte ihm aber nur darum unterlaufen, weil auch der Er
zähler der mittelalterlichen Epen - eine fiktionale Erzählfunktion ist. So hat
auch E. Lerch darauf aufmerksam gemacht, daß in der Wiedergabe der
bewußten oder unbewußten Gedanken der Romanpersonen die interpre
tierende Stimme des Erzählers fast unmerklich mit hineintönt, indem er
ihre Gedanken dennoch mit seinen Worten denkt 51 52 . In der Tat genügt es
keineswegs, die erlebte Rede dadurch zu charakterisieren, daß man sagt, sie
sei ein Mittel, die stummen Gedanken, den Bewußtseinsstrom der Personen 62
von deren Blickpunkt her darzustellen. Gewiß gibt es Formen, wo dies der
überwiegende Eindruck ist, der hervorgerufen wird:
The way she said »Here is my Elizabeth 1« - that annoyes him. Why not ihere’s Eliza
beth« simply? It was insincere. And Elizabeth didn’t like it either. For heunderstood
young people; he liked them. There was always something cold in Clarissa, he thought. . .
(Virginia Woolf: Mrs. Dalloway)
Aber die Schicht, die die erlebte Rede einnehmen kann, ist oft auch sehr
viel breiter, sie kann so umfassend sein, daß sie überhaupt die Erzählfunk
tion ausmachen kann und es unentscheidbar ist, wo sozusagen die Grenze
abzustecken ist, die das ‘Innere’, die seelischen Vorgänge, die sich in dieser
Darstellungsform vor uns entwickeln, gegen ein Außen, d.i. ein objekti
vierendes Interpretieren, trennt. Unser Musil-Beispiel zeigt dies Phä
nomen sehr deutlich auf. Die allgemeinen Betrachtungen, die sich nicht,
wie in dem obigen Text, mit einer der Romanperson nahestehenden anderen
Person beschäftigen, sind zugleich die Ulrichs und des Erzählers. Aber sie
sind die des Erzählers nur darum, weil sie die Ulrichs sind, d.h. dazu dienen,
seine innere und äußere Situation zu gestalten.
Worauf es hier ankommt, ist, einsichtig zu machen, daß die erlebte Rede
das Wesen des fiktionalen Erzählens als einer Funktion und nicht als einer
Aussage, darum so scharf beleuchtet hervortreten läßt, weil sie eben die
49. ELerch: Die stilistische Bedeutung des Imperfekts der Rede. GRMVI ,470 ff
50. WGünther: Probleme der Rededarstellung (’28)
51. Lerch (Anm. 49), jetzt auch Storz: Über den Mon. int., 43 f
52. RHumphrey: Stream of consciousness in the modern novel. Berkeley’54