Full text: Die Logik der Dichtung

Die fiktionale oder mimetiscbe Gattung 
einer Gestalt, 2ur Gestalt einer fluktuierenden Funktion, die bald diese, bald 
jene dieser ihrer Formen annehmend die Fiktion erzeugt. Alle Formen, die 
diese Funktion, das fiktionale Erzählen, aufweist und durch die es sich, wie 
wir bei jeder von ihnen sahen, kategorial von der Wirklichkeitsaussage un 
terscheidet, sind dadurch geprägt, daß die Erzählfunktion nicht wie diese 
ein Objekt beschreibt und dieses so oder anders verstehen, deuten, beurtei 
len, bewerten kamt, sondern deutend eine Welt erzeugt, derart daß Erzeugen 
und Deuten ein einziger schöpferischer Akt, das Erzählte das Erzählen und 
das Erzählen das Erzählte ist. 
Diese Formel, in der wir die Resultate der vorhergehenden Untersuchun 
gen (und die Kritik gegen die Auffassung von der ‘Rolle des Erzählers’) 
nochmals zusammenfassen, könnte auf Widerspruch auch dann stoßen, 
wenn man den Nachweis des Funktionszusammenhangs zwischen Erzählen 
und Erzähltem akzeptiert: auf Widerspruch vom Leseerlebnis her. Denn 
mag es erkenntnis- und sprachtheoretisch sich auch im Sinne eines Funk 
tionszusammenhangs verhalten, entspricht es nicht dennoch unserem Lese 
erlebnis, zwischen einem Erzähler und dem was er erzählt, wohl unterschei 
den zu können ? Unterscheidet sich nicht gerade dadurch unser Erlebnis von 
einem Roman von dem eines Dramas, sei es daß wir dieses lesen oder auf der 
Bühne sehen? Wobei dann auch die Tatsache des Längenunterschiedes der 
beiden fiktionalen Formen in dies Erlebnis als ein mehr oder weniger be 
wußtes Element eingeht. - Nehmen wir also diese Leserfrage auf und sehen 
zu, ob diese sich richtig deutet und beantwortet. Wir begnügen uns nicht 
mit einem unbestimmten Eindruck, sondern fragen nach der Art, in der man 
einerseits einen Roman, anderseits ein Drama beschreibt und interpretiert. 
Diese Frage beantwortet sich am einleuchtendsten von den Verhältnissen 
des Dramas her. Wir interpretieren Handlung, Charaktere, Gedankengehalt 
und sind dabei auf die Worte angewiesen, die der Dichter die dramatischen 
Gestalten ‘sagen läßt’. Aber verfahren wir nicht auf genau dieselbe Weise, 
wenn wir eine erzählende Dichtung interpretieren ? Unterscheiden wir dabei, 
was der Dichter die Personen und was er den Erzähler sagen läßt? Sagen 
wir etwa: Nun sagt der Erzähler, daß Duschka in den Mittagsstunden bei 
Jekaterina Iwanowna anklopfte, dann sagt Duschka selbst: »Wann wird die 
ser spätere Nachmittag sein?« (Denn dies ist die erste direkte Rede, die in 
dem angeführten Textstück vorkommt.) Nein, wir berichten höchstens: 
Duschka klopft bei Jekaterina an, sie sieht 64 ernst aus usw. Bericht und Rede 
fließt uns zusammen in der gestalteten Welt der betreffenden Dichtung, ganz 
54. Das Referat oder die Analyse des Inhalts eines Romans im Präsens und nicht im Imperfekt ist 
ein weiteres unwillkürliches Anzeichen dafür, daß dieser nicht als vergangen erzählt ist, das epische 
Präteritum keine Vergangenheitsfunktion hat. (Näheres über das reproduzierende Präsens in meinem 
Aufsatz: Das epische Präteritum, DVJS, Jg. 25, 352flf.) 
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