Full text: Die Logik der Dichtung

Die fiktionale oder mimetiscbe Gattung 
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zeugt sind. Und diese Apperzeptionserfahrung des Lesers ist um so sympto 
matischer als, etwa in dem Kapitel >Operationes spirituales<, die Haupt 
masse der Diskussionen zwischen Settembrini, Naphta und Hans Castorp 
in indirekter Rede gestaltet ist, die, wie gezeigt, in der Fiktion nicht die 
Struktur einer Wiedergabe der Rede dritter Personen hat, sondern diese 
nicht anders als aussagende Subjekte gestaltet wie der Dialog, der eben des 
halb unbeschwert mit ihr abwechseln kann. Ein Stückchen aus diesem Ka 
pitel des >Zauberberg<- mag diese Seite des Leseerlebnisses beleuchten: 
. . . Die Philanthropie seines Herrn Widersachers, sagte er, arbeite darauf hin, dem Le 
ben alle schweren und todernsten Akzente zu nehmen; auf die Kastration des Lebens gehe 
sie aus, auch mit dem Determinismus ihrer sogenannten Wissenschaft. Aber die Wahrheit 
sei, daß der Begriff der Schuld durch den Determinismus nicht nur nicht abgeschafft werde, 
sondern sogar durch ihn noch an Schwere und Schaudern gewönne. 
Das war nicht schlecht. Ob er etwa verlange, daß das unselige Opfer der Gesellschaft 
sich ernstlich schuldig fühle . . . 
Allerdings. Der Verbrecher sei von seiner Schuld durchdrungen wie von sich selbst. , . 
Der Mensch sei, wie er habe sein wollen ... Er möge sterben, da er die tiefste Lust gebüßt 
habe. 
Die tiefste Lust ? 
Die tiefste. 
Man kniff die Lippen zusammen. Hans Castorp hüstelte. Herr Ferge seufzte. Settem 
brini bemerkte fein: 
»Man sieht, es gibt eine Art zu verallgemeinern, die den Gegenstand persönlich färbt. 
Sie hätten Lust, zu töten ?« 
Deutlicher noch als das Beispiel aus dem >Großen Kriegt Ricarda Huchs 
wird damit - und zwar gerade wegen des nicht bloß berichtenden sondern 
reflektorischen Charakters dieser Reden - die indirekte Form zum Beweise 
des impersonalen Funktionscharakters des Erzählens, gleichgültig welche 
seiner Formen es auch annimmt. Ununterscheidbar, nicht bloß erst in der 
nachträglichen Vorstellung des Werkes, sondern bereits während des Lese 
prozesses selbst, fließen fluktuierend diese Formen: Bericht, direkte, indi 
rekte, erlebte Rede usw. zusammen. Und sie fließen zusammen nicht etwa 
zur Totalität des Erzählens, sondern zur Totalität des Erzählten, innerhalb 
derer der Satz: »Denn das höchste Unglück wie das höchste Glück verän 
dert die Ansicht aller Gegenstände« eine strukturell gleichartige gestalteri 
sche Funktion hat wie der voraufgehende: »Ottilie steht ihm in allem bei: 
sie schafft, sie bringt, sie sorgt, zwar wie in einer anderen Welt wandelnd.« 
So wenig wie in diesem Satze das Erzählen von dem Erzählten zu trennen 
ist, und ein ‘Erzähler’ sich nicht bemerkbar macht, ist dies auch in dem an 
schließenden der Fall. Dieser ist nur eine weitere Interpretation des Seins 
Ottiliens in diesem Augenblick ihrer Existenz, eine Interpretation, die in
	        

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