Die epische Fiktion
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% Hamburger, Logik
Goethes Stil den Charakter einer sentenzenhaften Allgemeinheit hat, aber
sich dichtungstheoretisch nicht von den noch weniger allgemeinen, näher
an das Jetzt und Hier Ottiliens sich anschließenden Interpretationen des
voraufgehenden Satzes unterscheiden 65 .
Denn was schon an vielen Stellen unserer Darlegungen zu Tage trat, soll
nun zusammenfassend nochmals ausdrücklich gemacht werden: daß der
Charakter der Erzählfunktion in demselben Maße deutend wie erzeugend
ist. Wenn auch, naturgemäß, der deutende, interpretierende Charakter des
epischen Erzählens immer erkannt wurde und zu der personifizierenden
Auffassung des Erzählens führte, so wurde diese darum fehlerhaft, weil nicht
zugleich auch der funktional erzeugende, mimetische Charakter dieses Inter-
pretierens erfaßt worden war, der sich grundwesentlich von dem beurteilend
erklärenden Charakter des historischen Erzählens unterscheidet (wie wir
oben an den Experimenten gezeigt haben, die wir mit der Kleiststelle vor
genommen haben). Wenn W. Kayser unter Beibehaltung des Begriffes Er
zähler diesen als »gedichtete, fiktive Gestalt« bezeichnet, die »in das Ganze
der Dichtung hineingehört« 66 , so wird zwar lebhaft gespürt, daß es sich mit
dem epischen Erzählen anders verhält als mit dem historischen. Aber die
Terminologie verbleibt noch inadäquat, weil nicht das Verhältnis erkannt
ist, in dem-das Erzählen zu demjenigen steht, der es handhabt, dem erzäh
lenden Dichter. Er ist es, der erzählt, aber er erzählt nicht von seinen Ge
stalten (Dingen und Begebenheiten), sondern er erzählt die Gestalten, wie
der Maler die seinigen malt. Und wie dieser zugleich indem er malt auch
deutet, ohne daß der eine Vorgang von dem anderen zu trennen wäre, so
erzählt der erzählende Dichter zugleich indem er deutet. Derart daß in je
den dem Anschein nach nur feststellenden ‘aussagenden ’ Satze schon ein wie
auch immer unmerkliches interpretierendes Element miteingeht, das nun,
55. Eine sozusagen unbeabsichtigte Bestätigung für das Fluktuieren der Erzählfunktion und ihre
dichtungstheoretische Einheitlichkeit ist die bereits erwähnte eindringliche, viele feine Beobachtungen
liefernde Arbeit von FStanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Gerade indem hier beson
ders scharf Romantypen „auktorialen“ Charakters - wo also die Erzählperson berichtend und kommen
tierend sich bemerkbar macht - von „personalen“ Typen unterschieden werden - wo der Blickpunkt in
die Romanpersonen verlegt ist wie im Dialog, erlebter Rede usw. -, kann der Verf. nicht daran vorbei
sehen, daß eben in jedem Roman beide Situationen auftreten, wenn auch, je nach Zeit- und Autorstil,
in verschiedenen Dosierungen. „Ähnlich wie im Ich-Roman“, gesteht der Verf. etwa zu, „wird auch
im personalen Roman eine Neigung dazu sichtbar, auktoriale Elemente in die personale Erzählsituation
aufzunehmen“ (S. 93) und „kann umgekehrt schon bei der Lektüre eines auktorialen Romans beobach
tet werden, daß nicht selten eine vollständige Vergegenwärtigung des Erzählten ähnlich wie bei per
sonaler Erzählsituation eintritt. Dies geschieht z.B. in längeren Dialogszenen...“ (S. 94). Vgl. auch
S. 48. Dies sind denn nun freilich Fakten, die eben nicht nur als Fakten hingenommen werden dürfen,
sondern als Symptome zu beachten sind, daß es sich mit dem „auktorialen Erzähler“ komplizierter
verhält, als gewiß oftmals unmittelbar aus den Texten abzulesen ist.
56. WKayser: Entstehung und Krise des modernen Romans. Stgt.’54,17. Die Beobachtungen dieser
Arbeit bieten als solche eine reiche Bestätigung der systematisch-synchronischen Verhältnisse, die hier
aufzudecken versucht wurde.