Die fiktionale oder mimetische Gattung
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je nach Epochen- und Verfasserstil, mehr oder weniger ausgeprägt, sich in
alle Formen hineinergießt, derer sich das fiktionale Erzählen kraft seines
funktionalen Charakters nur immer bedienen kann: vom Bericht zum Dia
log und allen fluktuierend sich erzeugenden Übergängen zwischen ihnen.
Und so können wir, die vorhergehenden Untersuchungen zusammenfas
send, sagen, daß das Erzählen (des erzählenden Dichters oder des Erzählers)
nicht eine Person mehr ist, die in der erzählenden Dichtung über die drama
tische hinaus vorhanden wäre, sondern eine Form mehr der mimetischen
Funktion, die der Erzähler über den Dramatiker hinaus zu seiner Verfügung
hat. Diese Funktion kann gleich Null werden und dennoch eine Fiktion ent
stehen, nämlich eben die dramatische, aber auch die filmische. Und dies be
deutet, daß die epische Erzählfunktion durch andere Funktionen ersetzt
wird, wie wir unten näher sehen werden.
Mit diesen Feststellungen und Hinweisen wird wiederum die Grenze deut
lich, die zwischen der logischen und der ästhetischen Betrachtung der Dich
tung verläuft, und auf die nun besonders zu achten ist, wenn es sich um die
Bestimmung des Verhältnisses handelt, in dem die dramatische Fiktion zur
epischen steht.
ii. Die dramatische Fiktion
Das Verhältnis der dramatischen %ur epischen Fiktion
An der Grenze, die Dichtungslogik von Dichtungsästhetik trennt, kann
es besonders dann zu kämpferischen Grenzintermezzos kommen, wenn die
erstere den Anspruch erhebt, die dramatische Dichtung unter dieselbe
Gattung zu ordnen wie die erzählende Dichtung. Die strukturelle, künst
lerische und gehaltliche Unterschiedlichkeit der beiden fiktionalen Formen
erscheint der Dichtungsästhetik zu groß, als daß sie die nüchtern und äußer
lich-technisch erscheinenden Argumente akzeptieren könnte, die die Dich
tungslogik zunächst anzubieten hat. Diese weist etwa auf die Tatsache hin,
daß immer wieder epischer, und das heißt schon fiktionalisierter Stoff zu
dramatischer Gestaltung lockte, mit Beispielen wie die Geschichte des
Faustbuches, der Nibelungenstoff, das Schöpfen ernster und heiterer opern
dramatischer Kunst aus erzähltem Stoff wie im Falle von Wagners >Tristan,<
Mussorgskys >Boris Godunowt (nach Puschkins Epos), Offenbachs >Hoff-
manns Erzählungen< und andere mehr. (Auch der gewiß weniger häufige,
aber symptomatische Fall kommt vor, wo ein Dichter sein eigenes episches
Werk in ein dramatisches umgegossen hat, wie Pär Lagerkvist mit seinem
Roman >Der Henken verfuhr.) Solche Hinweise und Symptome wird die
Ästhetik darum nicht beachten, weil sie sich gegen die darin implizierte