Die dramatische Fiktion
Unterschätzung der Erzählstruktur der erzählenden Dichtung, gegen jeg
liche Unterordnung der strukturellen und stilistischen Eigenart des Er
zählens unter seine fiktionalisierende Funktion wehren wird. Sie wird, was
das Drama betrifft, befürchten, daß dessen empfindlicher Architektonik nicht
genügend Rechnung getragen wird, wenn die bisher als gattungsmäßig
statuierten Unterschiede zwischen epischer und dramatischer Dichtung
durch eine wie immer logisch begründbare Zusammenordnung ausgelöscht
werden.
Dennoch läßt nun aber gerade eine Musterung der vielen, gehaltlichen
wie formalen Vergleiche, die die Poetik zwischen Epik und Dramatik ge
zogen hat, erkennen, daß sie sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, dabei
innerhalb einer Gattung bewegt. Wobei es als verräterisches Kriterium gel
ten kann, daß Vergleiche des Dramas mit dem alten Epos zu entgegen
gesetzten Resultaten führten als ein Vergleich des Dramas mit dem Roman
und wiederum ein Vergleich von Epos und Roman sich nicht wesentlich
von dem des Dramas mit dem Epos unterschied. Wenn etwa Goethe und
Hegel dem Epos den Vorrang der Begebenheit, des Geschehens vor dem
»nach innen geführten« Menschen, dem »inneren Charakter« 57 , dem Drama
das Umgekehrte zuordneten, so konnte ein moderner Dichtungstheoretiker,
W. Kayser, im Vergleich mit dem Roman zu umgekehrten Resultaten kom
men und den Vorrang des Geschehens dem Drama, den der »Figur«, also
der personalen Existenz, der »privaten Welt des Romans« zuordnen 58 . Aber
auch im Vergleich des Romans mit dem alten Epos kam man zu ähnlichen
Ergebnissen 59 60 , während, unter wieder anderen Gesichtspunkten und mit
entgegengesetzten Schlußfolgerungen, Roman und Epos nur in Bezug auf
die Art ihrer Weltdarstellung verglichen wurden 80 . Die Möglichkeit sowohl
wie die Widersprüchlichkeit dieser Vergleiche erklärt sich aus der dichtungs
57. Goethe: „Das epische Gedicht stellt... den außer sich wirkenden Menschen: Schlachten,
Reisen, jede Art von Unternehmung die eine gewisse sinnliche Breite fordert, vor, die Tragödie den
nach innen geführten Menschen“ (23. 12. 1797). Hegel: „Bei der Handlung wird alles auf den inneren
Charakter . . . zurückgeführt; bei Begebenheiten dagegen erhält auch die Außenseite ihr ungeteiltes
Recht... In diesem Sinne habe ich bereits früher gesagt, daß es die Aufgabe der epischen Poesie sey,
das Geschehen einer Handlung darzustellen und deshalb auch . . . den äußeren Umständen . .. dasselbe
Recht zu ertheilen, welches im Handeln als solchen das Innere ausschließlich für sich in Anspruch
nimmt.“ (Vorlesungen über die Ästhetik III, 357)
58. WKayser: Das sprachliche Kunstwerk. Bern *48. (I. A.), 369
59. Schon die vortreffliche Romantheorie ChrFr von Blanckenburgs (Versuch über den Roman,
1774) erkennt, geleitet von Wielands Agathon, „das Sein des Menschen“, seinen „inneren Zustand“
(S. 18) als das Thema des Romans, im Gegensatz zu den öffentlichen „Thaten und Begebenheiten,
Handlungen des Bürgers“ (S. 17), die das Epos schildert. Blanckenburg nahm damit über die ‘klassi
sche’ deutsche Ästhetik hinweg sehr moderne Auffassungen vorweg, wie sie etwa GLukacs in seiner
bekannten »Theorie des Romans 4 (1920) zum Ausdruck gebracht hat.
60. Noch 1938 vertritt z.B. ThSpoerri in seinem Buche: Die Formwerdung des Menschen (Bin ’38)
ähnliche Auffassungen wie Hegel und Vischer: indem er „die Welt des Alltags“, als Gegenstand des
Romans (S. 60 f.), „die Epopöe der zur Prosa geordneten Wirklichkeit“, wie ihn Hegel charakterisiert
hat (Vorl. ü. Ästh. III, S. 395), der vom Mythus geprägten Welt des Epos gegenüberstellt.