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Die dramatische Fiktion
lichkeitsebene abzulesen, der die Bedingung der dichterischen Existenz und
Erzeugung der dramatischen Gestaltenwelt ist.
Die Formel, daß das Wort Gestalt wird, und nichts als diese, ist der Aus
druck der Gegenständlichkeit, ja Dinglichkeit der dramatischen Personen,
die sich konstituiert durch das Verschwinden der Erzählfunktion, die
Aufteilung des darzustellenden Stoffes an frei sich darstellende und sich
äußernde Personen. Damit gewinnen sie aber eben den Aspekt, den auch
die wirklichen Menschen im Raume der physischen Wirklichkeit haben,
die ‘Anderen’, die außer und vor mir befindlichen Menschen, die ich
sehe, höre, mit denen ich spreche. Sie sind Objekte, Dinge, wenn auch
ich-beseelte, für mich, die mir, denen ich gegenüberstehe, derart, daß
ich niemals ein ganzes, ein vollkommenes Bild von ihnen gewinnen
kann, nur das von ihnen weiß, wodurch sie sich selbst mir darstellen,
sei es durch ihre Worte oder ihr Tun (wobei das letztere u. U. das
durch die Worte vermittelte Bild verändern kann). Immer aber ist das
Bild der mir gegenüberstehenden, objektiv erlebten Welt fragmentarisch —
eine der wesentlichsten Eigenschaften des Wirklichkeitserlebnisses. An dem
fragmentarischen Charakter der Wirklichkeit als Erlebnisform hat nun auch
die dramatische Gestalt, das dramatische Werk teil, wenn auch in beson
derer, modifizierter Weise. Sie stellt gewissermaßen die reine platonische
Idee fragmentarisch erlebter Wirklichkeit dar - und die Situation des Zu
schauers vor dem auf der Bühne ihm zugekehrten Schauspieler ist recht
eigentlich das Symptom dieser Tatsache. Denn gegenüber der lebendigen
Wirklichkeit ist ja das Erlebnis des Fragmentarischen in dauernder Vervoll
ständigung begriffen, die bis zu einem hohen, wenn auch niemals absoluten
Grade integriert werden kann. Den Anderen, den Mitmenschen kann ich
‘kennen lernen’, so wie ich die sich jeweils mir darbietende fragmentarische
Umwelt mir erweitern kann, wenn ich mich in ihr bewege. Und dies Ken
nenlernen knüpft sich nicht nur an das von dem objektiv mir gegenüber
seienden Anderen in irgend einer Form Kundgegebene; meine eigene ver
stehende Einfühlung und psychologische Deutung arbeitet daran mit, eine
Arbeit, der prinzipiell keine Grenze gesetzt ist, weil das Objekt selbst eine
in sich unendliche, unerschöpfliche, sich entwickelnde lebendige Ganzheit
ist. - Nun bietet gewiß auch die dichterische Gestalt immer neue Deutungs
möglichkeiten dar, wovon Literaturgeschichte und Literaturkritik ein durch
die Zeiten wechselndes anschauliches Bild geben. Und es zeugt davon die Tat
sache, daß die praktischen Interpreten einer dramatischen Dichtung, Re
gisseure und Schauspieler, derselben gedichteten Figur höchst verschiedene
Verkörperungen geben können und zu geben pflegen, der Schauspieler A
einen anderen Hamlet auf die Bühne stellt als der Schauspieler B. Dennoch
wird unmittelbar gespürt, daß es sich mit der Deutung des Lebens, des