Full text: Die Logik der Dichtung

Die fiktiomle oder mimetische Gattung 
lebendigen Menschen anders verhält als mit der Deutung der Dichtung, der 
gedichteten Gestalt. Hier ist das was sich wandelt nicht das Objekt der 
Deutung selbst, sondern der Interpret (womit es zusammenhängt, daß, wie 
oben in anderem Zusammenhang erwähnt, der Begriff der Deutung adäquat 
nur hinsichtlich der Kunst ist). Die gedichtete Gestalt wandelt sich nicht; 
die Möglichkeit ihrer Deutung kommt an die Grenze, die dadurch bezeich 
net ist, daß nicht die Personen die Worte, sondern die Worte die Personen 
bilden, daß diese »durch die Satzgefüge konstituiert sind« 71 , nicht aber die 
Satzgefüge durch sie. Dies gilt nun nicht bloß für die dramatische, sondern 
auch die epische Gestalt - und im Raume der fiktionalen Dichtung selbst 
betrachtet, ist gerade sie es, die diese ihre ‘Seinsweise’ nicht verleugnet. 
Dies tut die dramatische Gestalt, die die sie konstituierenden »Satzgefüge« 
in sich aufgesogen hat und eben deshalb mit den Mitteln der physischen 
Wirklichkeit »verkörpert« werden, den Schein des Lebens, der »Lebens 
ähnlichkeit« 72 repräsentieren kann. 
Diese Struktur der dramatischen Gestalt enthüllt sich weiter, wenn wir 
den zweiten Aspekt der dramatischen Formel, daß die Gestalt Wort wird, 
und nichts als dieses, analysieren. Erst in dieser Sicht tritt die eigentümliche 
Doppelheit ihrer Existenzform ganz hervor, zeigt sie sich ganz in dem frag 
mentarischen Wesen, das sie einerseits, als Fiktion, von der Wirklichkeit 
unterscheidet, anderseits, als dramatische Fiktion, von der epischen Gestalt. 
An diesem Punkte ihrer Phänomenologie enthüllt sich auf eine nahezu para 
doxe Weise, daß gerade das Drama, das den Schein der Wirklichkeit an 
nehmen kann, den Fiktionscharakter der fiktionalen Dichtung in einem 
noch höheren Intensitätsgrad, gewissermaßen elementarer als die epische 
Dichtung zur Erscheinung bringt - und zwar gerade auf Grund ihrer 
»Lebensähnlichkeit«. 
Zunächst nähert die Formel, daß die Gestalt Wort wird, die dramatische 
Figur der Wirklichkeit, nämlich in eben dem Sinne, in dem auch in der 
Wirklichkeit sich ein Mensch dem anderen zu erkennen gibt. Dies ist das 
Phänomen, das wir als Leser und als Zuschauer einerseits von der Wirkung 
der dramatischen Personen auf uns selbst, auf unsere Auffassung von ihnen, 
haben, wie auch anderseits von dem Anblick der aufeinander wirkenden, mit 
einander agierenden Personen des Dramas, also seiner ihm immanenten 
Handlung, selbst. An diesem Punkte der gewissermaßen allzu ‘wirklich 
keitsähnlichen’ Struktur des Dramas setzen die Erweiterungstechniken 
älterer und neuer Art ein, vom Chor, Monolog bis zu den lautbar werdenden 
stummen Gedanken, durch die etwa Eugene O’Neill, in seinem Stück 
71. GMüller: Über die Seins weise von Dichtung, DVJS 17, 144 
72. MDessoir: Beiträge zur Kunstwissenschaft. Stgt ’29, 137. Vgl. dazu auch FJunghans: Zeit im 
Drama. Bin. *31, 37 
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