Die dramatische Fiktion
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»Strange Intermezzo« mit kühnem Griff in die Begrenzung einbrach, die dem
dramatischen Dichter auferlegt ist 73 . Sowohl diese Erweiterungstechniken
wie auch die inneren Aufbaustrukturen der einzelnen Dramen sind in
unserem Zusammenhang deshalb aufschlußreich, weil sie einen Hinweis
auf die duale dichterische Seinsform des Dramas geben, ja, etwas zugespitzt
ausgedrückt, auf den Zwiespalt, in dem es sich befindet, als Dichtung eine
umfassendere Wirklichkeit darstellen zu sollen und zugleich auf die wahr
nehmbare Wirklichkeit an- und hingewiesen zu sein. In die Wirklichkeits
problematik, die sich hier eröffnet, führen unmittelbar zwei Äußerungen
großer moderner Dichter ein.
Hugo von Hofmannsthal begründet seine Kritik an der Haltung der
Prinzessin in Goethes >Tasso< damit, daß sie als dramatische Figur sich nicht
auch durch Schweigen darstellen könne. »Ich glaube, sie hätte eine solch
in sich ruhende Frau werden sollen ..., eine Figur wie die Stiftsdame, von
der die Bekenntnisse einer schönen Seele sind, oder wie die Ottilie in den
Wahlverwandtschaften. Aber für eine solche Durchsichtigkeit ist wahr
scheinlich im Drama kein Platz, und weil im Drama die Figuren sich immer
nur durch Reden zeigen können, nicht durch stilles Dasein und lautlose
Reflexion der Welt in ihrem durchscheinenden Innern, so hat ihn (Goethe)
hier, denk ich, das Metier gezwungen, die schönste Figur zu verderben,
indem er sie über sich reden und deklamieren läßt, wo es ihre Sache wäre,
sowohl als große Dame wie als schöne Seele, gerade nicht zu reden« 74 . Und
in dem noch früheren Essay >Über Charaktere im Roman und Drama« (1902)
in der Form eines Gesprächs zwischen Balzac und dem Orientalisten Ham-
mer-Purgstall, läßt er Balzac den dramatischen Charakter als eine »Ver
engerung des wirklichen« bezeichnen. »Was mich an dem wirklichen be
zaubert, ist gerade seine Breite.« 75 Von verschiedenen Gesichtspunkten her
beleuchten diese beiden Äußerungen das Fragmentarische der dramatischen
Menschengestaltung. Hofmannsthal läßt Balzac, der ja meinte, mit der
Breite und Vielzahl seiner Romane die Breite der Wirklichkeit seiner Na
tion gewissermaßen reproduzieren zu können, der dramatischen Gestalt und
ihrer Welt die ‘Wirklichkeit’ absprechen. Auch die Kritik an der Gestalt der
Prinzessin Leonore beruht darauf, daß die eigentliche Wirklichkeit einer
solchen Frau in dramatischer Form nicht in Erscheinung treten könne, weil
sie nicht in der stillen Tiefe ihres Wesens, »ihrem durchscheinenden Innern«,
allein mit sich selbst, schweigend, dargestellt werden kann, sondern gerade
73. Näheres in m. Aufsatz: Zum Strukturproblem d. ep. u. dram. Dichtung. Vgl. auch Una Ellis-
Fermor: The Frontiers of Drama, London’45. Die Erweiterungsformen werden naturgemäß in jeder
Dramentheorie diskutiert, sind aber unter unserem Gesichtspunkt des dichtungslogischen Ortes nicht
relevant.
74. Unterhaltung über den Tasso, 217
73. Prosa II, S. 44