Einleitung
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anderen weit prägnanteren Sinn als wenn wir die Musik als Tonkunst be
zeichnen - und von der Malerei als Farbenkunst, der Plastik als Steinkunst
zu sprechen, wird unmittelbar als sinn- und bedeutungslose Kategorisierung
empfunden. Denn eben dies unterscheidet das Material der Dichtung von
den Materialien der anderen Künste, daß es an sich bereits sinngeprägt, an
sich schon ein Produkt des menschlichen Geistes und seiner Geschichte ist.
Dies ist keine neue Erkenntnis. Wilhelm Schlegel etwa hat sie formuliert,
wenn er sagt, daß »das Medium der Poesie eben dasselbe ist, wodurch der
menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt und seine Vorstellun
gen zu willkürlicher Verknüpfung in die Gewalt bekommt: die Sprache« 1 .
In diesem Satze ist aber auch schon angedeutet, daß dies Medium sich nicht
darin erschöpft, aus sinngeprägten Zeichen, den Worten, zu bestehen, son
dern daß es die Dichtung in weit einschneidenderer Weise in ihrem beson
deren Kunstsein bestimmt. Indem ihr Material die Sprache ist, ist sie zu
gleich Teil des Systems, in dem und durch das sich der Aufbau der geistigen
Welt, d.h. die Erkenntnis der gegenständlichen und geschichtlichen Wirk
lichkeit so gut wie der Entwurf idealer Bildungen, überhaupt vollzieht: des
Systems des Denkens selbst.
Die mannigfachen älteren und neueren Theorien der Dichtung scheinen
mir darum nicht zu voll befriedigenden Resultaten gekommen zu sein, weil
diese Tatsache, die Teilhabe der Dichtung am allgemeinen Denksystem,
nicht scharf genug als solche erfaßt worden ist oder jedenfalls nicht die
letzten Konsequenzen aus ihr gezogen worden sind. Erst wenn dies ge
schieht, tritt das eigentümliche, für die Dichtung spezifische Phänomen zu
tage, daß sie ein schwer zu umgrenzendes Kunstgebiet ist, ja sogar »diejenige
besondere Kunst, an welcher die Kunst sich aufzulösen beginnt«, wie Hegel
erkannt hat; und wir werden sogleich sehen, worin diese Einsicht Hegels
begründet ist und welche von ihm selbst freilich nicht gezogenen Folgerun
gen sich daraus ergeben. Denn wenn man mit dieser Erkenntnis Ernst
macht, enthüllt sich ihr methodischer Wert. Sie leuchtet hinein in das ver
borgene logische Gewebe der Dichtung, durch das diese mit dem Gewebe
der allgemeinen Denk- und Vorstellungsvorgänge sowohl zusammenhängt
wie aber auch sich von ihm abscheidet. Bei Aufdeckung dieser Struktur aber
kommen eigentümliche, oft überraschende Phänomene ans Licht. So zeigt
sich vor allem, daß das zentrale Problem der Poetik, das der Gattungen, sich
unter einem anderen Aspekt, einem anderen Ordnungsprinzip darstellt als den
bisher vertrauten, wie variierend diese auch gewesen sind und noch sind.
Seitdem Goethe, sich von dem Zwange der klassischen Poetik freimachend,
Lyrik, Epik und Dramatik als die drei einzigen »Naturformen« bezeichnet i.
i. AWSchlegcl: Vorlesungen über Schöne Literatur und Kunst (Deutsche Lit. Denkm. d. t8.
u. 19. Jahrh. Bd. 17 (1884), 261)