Die dramatische Fiktion
9 Hamburger, Logik
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bewältigt zugrunde lag. Obwohl die fortschreitende Bühnentechnik, die
durch sie entwickelten Möglichkeiten etwa durch Raum- und Beleuchtungs
effekte, Drehbühne u. a. m. einen Ablauf der imaginären Zeit der Handlung
zu illustrieren, das Problem der Handlungszeit immer mehr eliminiert hat,
ist die klassische Theorie auch heute noch weniger überwunden als man
meinen sollte. Sie hat sich in der modernen Dramenpoetik in der Form der
Theorie erhalten, daß die Zeit des Dramas die Gegenwart sei 86 . Die Gegen
wartstheorie entspricht der auf die Epik bezogenen Vergangenheitstheorie,
und zwar mit mehr Recht, wenn auch aus anderen Gründen, als es vielleicht
diese Theorie selbst absah. In der Tat entspricht die Theaterbühne nichts
anderem als dem Präteritum der Erzählung. Nicht die dramatische Form
des Dialogs als solche, sondern das Phänomen des aufgeführten Stückes ist
die Ursache der Auffassung, daß »die Handlung als gegenwärtig dargestellt
ist« 87 , »das Drama eine in sich abgeschlossene Handlung ... in unmittel
barer Gegenwärtigkeit darstellt« 88 89 , »takes place in aperpetual present time.
On the stage it is always now« 8? , (- um aus der Fülle der gleichlautenden
Bestimmungen aufs Geratewohl einige auszuwählen). Diese Bestimmungen
kopieren so getreulich den Schein des Zuschauererlebnisses, daß sie der
ausdrücklichen Formulierung kaum bedurft hätten. Sie erweisen sich aber
als problematisch, ja sogar fehlerhaft, wenn man prüft, ob diese Bestimmung
der dramatischen Gegenwart sich wirklich als ein temporales Erlebnis ande
rer Art als das der erzählten Handlung erweist. Wenn im zweiten Akt von
Ibsens >Rosmersholm< Rebekka West zu Rosmer sagt: »Gestern abend, wie
Ulrik Brendel ging - da habe ich ihm zwei bis drei Zeilen an Mortensgärd
mitgegeben«, so hat der Zuschauer dieses Gestern vor wenigen Minuten
seiner Zeit, im ersten Akt, erlebt, als Brendel mit Rebekka die Bühne ver
läßt; und daß sie ihm ‘dann’, in der (verdeckten) dramatischen Handlung
(aber nicht etwa hinter der Bühne) einen Brief an Mortensgärd mitgegeben
hat, erfahren wir erst durch ihre Worte. Dies zwar wahrgenommene, aber
fiktive Gestern erleben wir dennoch auf keine andere Weise als das vorge
stellte Gestern unseres Fontanetextes: »Die Szenerie war wie gestern«, das
wir gleichfalls vor wenigen Minuten unserer eigenen Zeit erlebt haben,
wenn auch in diesem Falle unserer Lese- und nicht unserer Schauzeit. Um
86. Von Theoretikern, die die Gegenwart für die Lyrik reservierten, wurde für das Drama das
Tempus der Zukunft in Anspruch genommen, so von Jean Paul: „das Drama (stellt) die Handlung,
welche sich für und gegen die Zukunft ausdehnt.. . dar“ (Vorschule d. Ästh. § 75), und in neuester
Zeit von SLanger: „As literature creates a virtual past, drama creates a virtual future (Feeling and
Form, joöf.) Mit Recht ironisieren Wellek and Warren: The Theory of Literature N. Y.,’49, 237f.,
ein wenig diese und andere Zeitmetaphysiken der Literaturtheorie, mit Hilfe der Tempora die Haupt
gattungen zu bestimmen, tragen aber selbst nichts zur Lösung der Frage bei.
87. Goethe an Schiller 2. XII. 1797
88. Hegei, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 479
89. Thornton Wilder: The Intent of the Artist, p. 83 (zit. nach Langer: Feeling and Form, p. 307)