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DIE LYRISCHE ODER EXISTENTIELLE GATTUNG
i. Das System der Wirklichkeitsaussage
und der Ort der Lyrik
Von den drei Texten, von denen unsere Untersuchungen ihren Ausgang
genommen hatten, die Eichendorffsche Gedichtstrophe, der Brief Rilkes und
der Anfang des Romans >Jürg Jenatsch<, hatte unmittelbar sich nur die erste
als Dichtung ausgewiesen: durch Metrum und Reim. Als wir aber, zum
Zwecke der logischen ‘Sezierung’, einen pietätlosen Angriff auf Metrum und
Reim unternahmen und die Strophe durch Umstellung einiger Worte in
Prosasätze auflösten, konnte sie ihre dichterische Sonderstellung nicht mehr
recht behaupten. Die ‘Poesie’ ihrer Worte, die Stimmung, die sie ausdrücken
- die Luft ging durch die Felder, sacht wogten die Ähren, die Wälder rausch
ten leis, die Nacht war so sternklar erwies sich nicht als ausreichendes Kri
terium ihrer Unterscheidung von den beiden Prosatexten. Denn auch diese
sind ja von ähnlicher poetischer Schönheit, nicht nur der gleichfalls auto-
chthone dichterische Text, die Romanstelle, auch der historische Text -, und
es beginnt sich der Grund zu zeigen, aus dem wir einen solchen historischen
Text, und nicht einen nüchternen Zeitungssatz über eine politische Situation
etwa, zum Instrument unserer Untersuchungen ausgewählt haben. Dieser
Grund wird sich im Folgenden immer klarer heraussteilen. An der Stelle wo
wir halten, wird man einwendend vielleicht konstatieren, daß wir uns dieses
historischen Textes als solchen für die Darstellung der Fiktionsstruktur gar
nicht weiter bedient hätten. Wir haben ihn mitsamt der Gedichtstrophe links
liegen gelassen und die Struktur zunächst der epischen Fiktion zwar in dau
erndem Vergleich mit dem historischen Erzählen, aber nicht mit dem ur
sprünglichen historischen Paradigma, dem Rilkebrief, herausgearbeitet. Dies
ist richtig, in der Tat konnten wir den Rilkebrief dort nicht gebrauchen.
Denn nachdem wir den dritten Text als einen Romantext deklariert und von
ihm aus die Verhältnisse des Roman-, des fiktionalen Erzählens entwickelt
hatten, mußten wir das Gebiet verlassen, in dem der Rilkebrief, aber auch
das lyrische Gedicht, angesiedelt sind, ihren logischen Ort haben. Und
warum? Als wir den Anfang des >Jürg Jenatsch<, der sich an sich, losgelöst
aus seinem Kontext (so wie wir ihn präsentierten) als strukturgleichartig
mit Brief und Gedicht erwiesen hatte, weiter lasen, änderte sich seine Struk
tur, sie wurde eine Romanstruktur, weil fiktive Personen, die Romangestal