Die lyrische oder existentielle Gattung
auch so formulieren, daß die Sprache überall Aussagesystem ist, wo sie
nicht fiktive Ich-Origines gestaltet. Und diese Formulierung ist nur darum
nicht so zugespitzt, wie sie praktisch erscheinen mag, weil durch sie in der
Tat die beiden einander entgegengesetzten logischen Möglichkeiten ausge
drückt sind, über die das sich sprachlich manifestierende Denken verfügt:
Aussage eines Subjekts über ein Objekt oder aber fiktive Subjekte erzeu
gende Funktion (in der Hand eines Künstlers: des Erzählers oder des Dra
matikers) zu sein. Wie eine Enklave hegt also die fiktionale Dichtung in dem
sie umgebenden unendlichen Aussagegebiet, von ihm logisch abgetrennt
durch die fiktionale Erzählfunktion, an deren Verhalten wir diese Struktur
erkennen und entwickeln konnten.
Nachdem dies also noch einmal zusammenfassend festgestellt wurde, ist
es unmittelbar ersichtlich, daß unsere Ausgangsbeispiele i und 2, die Ge
dichtstrophe und der Rilkebrief nicht dieser Enklave, sondern dem allge
meinen Aussagegebiet angehörig sind. Das Verhältnis von Dichtung und
Wirklichkeit aber stellt sich damit auf eine andere Weise dar, erst nun in dem
Sinne, oder vorsichtiger ausgedrückt in der Richtung, in die der Hegelsche
Satz weist. Denn auch ohne logische Nachweise ist leicht erkennbar, daß
ebenso, wie wir uns erlaubt haben, die Gedichtstrophe in eine Prosa-Aussage
zu verwandeln, die Umwandlung der schönen Beschreibung der schwedi
schen Schlittenfahrt in ein Gedicht im Bereiche der Möglichkeiten liegt.
Und dies, ohne daß dadurch der Charakter der Wirklichkeitsaussage ver
ändert sein würde, den der Brief als Brief besitzt. (Denn, um keinerlei Un
klarheit bestehen zu lassen: würde bei genau beibehaltenem Wortlaut der
Rilkebrief in einem Roman erscheinen, wäre er keine Wirklichkeitsaussage
mehr.)
Aber sowohl der Brief wie auch diese Eichendorffsche Gedichtstrophe
sind, so kann eingewendet werden, doch nur besondere Fälle einerseits
einer prosaischen Aussage, anderseits einer Gedichtform. Können wir von
diesen Beispielen aus schon den Schluß ziehen, daß die Lyrik ihren Ort im
allgemeinen Aussagesystem hat und damit Wirklichkeitsaussage ist ? Sowohl
der Inhalt, jeweils eine Landschaftsbeschreibung, wie die Form dieser Bei
spiele, objektive Behauptungssätze, sind Spezialfälle, die als solche noch
nicht erlauben, die Struktur der großen Gattung der Dichtung, die wir die
Lyrik nennen, zu erkennen und zu umgrenzen. Denn auch die Lyrik ist ja
ein unmittelbar als solches sich präsentierendes und erlebtes Phänomen,
das wir trotz des Hegelschen Satzes keineswegs mit der »Prosa« der Wirk
lichkeitsaussage vermengen. Wir unterscheiden, mehr oder weniger bewußt,
was lyrische Dichtung und was nicht-lyrische Aussage ist. Und dies selbst
dann, wenn wir gar nicht die äußere Form berücksichtigen, in der sich
Lyrik in den meisten Fällen darzustellen pflegt: Metrum, Rhythmus und