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Subjekt einer Aussage, die sich auf die geschichtliche, d.i. die spezifisch
menschliche Wirklichkeit (im weitesten auch die zu ihr gehörige gegen
ständliche Welt umfassenden Sinne) richtet, tritt prägnanter hervor, wenn
man es als historisches Ich bezeichnet, das Subjekt einer allgemein wissen
schaftlichen Aussage (Beispiel 2, 3,4) hebt sich davon als theoretisches Ich
ab, während wir aus Gründen, die unten deutlicher hervortreten werden,
das Aussagesubjekt des Psalmengebetes als praktisches Ich bezeichnen
wollen.
Ordnen wir diese Aussagen also auf der Aussageskala zwischen dem
Objektpol und dem Subjektpol an, so steht der philosophische Satz Kants
näher zum Subjektpol als sowohl der historische wie der mathematische
Satz, der Brief Rilkes näher zum Subjektpol als der philosophische Satz. Wie
es sich mit dem Psalm verhält, ist nicht ohne weiteres und von vornherein
zu entscheiden, wie sich weiter unten näher zeigen wird.
Wir betrachten zuerst den Rilkebrief, der uns bereits bei der Abscheidung
der fiktionalen Dichtung aus dem Aussagesystem wichtige methodische
Dienste geleistet hatte. Wie er dort besonders geeignet war, dies zu tun,
weil seine Aussage ihrer Art und Form nach auch in einem Roman ihren Ort
hätte haben können, so ist er um bestimmter, später näher zu untersuchender
Eigenschaften willen ebenso geeignet, etwas über den Ort der Lyrik zu ent
hüllen. Die Verhältnisse sind hier so verwickelt, daß gerade das Merkmal, das
ihn von einer Romanschilderung als Brief unterscheidet, das Kriterium für
den Ort der Lyrik abgibt. Es ist das Erlebnis der Wirklichkeit und damit der
Begriff des Erlebnisfeldes, der sich nun hier und im Folgenden als zentrales
Problem, und zwar als zentrales Gegenproblem zum Fiktionsfeld (primär)
der erzählenden, aber auch der dramatischen Dichtung, darbietet. Wir sahen
schon in den früheren Zusammenhängen, die sich mit dem Problem der
Aussage beschäftigten: die Wirklichkeit der hier geschilderten Örtlichkeit
ist dadurch gegeben, daß das Dokument sich als ein historisch-biographi
sches präsentiert, das schildernde Subjekt ein historisches Ich ist. Und dies
bedeutet anders ausgedrückt: der geschilderte Vorgang hat seinen Ort in
dem Erlebnisfeld dieses Ich. Er ist in deutlich kundgegebener Weise von ihm
erlebt. Dennoch aber würde dieser Brief allein nicht genügen, um das Aus
sagesystem bzw. die Aussageskala zu beschreiben, und deshalb auch nicht
zur exakten Bestimmung der Lyrik. Denn wenn auch das Erlebnisfeld des
Aussagesubjekts deutlich hervortritt, wie verhält es sich in dieser Hinsicht
mit den Beispielen 2 bis 4 ?
Auch das Beispiel 2, der Satz über Karls des Großen Regierungszeit aus
einem Geschichtsbuch sagt wie der Rilkebrief etwas über eine historische
Wirklichkeit aus. Trotzdem steht er auf der Aussageskala dem Beispiel 4,
dem mathematischen Satz, näher als dem Brief; und wiederum steht der
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