Full text: Die Logik der Dichtung

Die lyrische oder existentielle Gattung 
philosophische Satz dem Briefe näher als sowohl dem historischen wie dem 
mathematischen Satz. Die konkrete geschichtliche (oder gegenständüche) 
Wirklichkeit als solche scheint also für die Beschaffenheit des Erlebnisfeldes 
des Aussagesubjekts nicht ausschlaggebend zu sein. 
Ehe wir hier völlige Klarheit schaffen können, müssen wir Begriff und 
Wesensart des Erlebnisfeldes für die Beispiele z bis 4 näher untersuchen. Wir 
müssen Zusehen, ob wir hier überhaupt in allen Fällen von einem Erlebnis 
feld noch sprechen können. In diesen Sätzen, die einen rein objektiven 
Sachverhalt aussagen, scheint keine Bezugnahme auf ein aussagendes Sub 
jekt vorhanden, die Rede von dem Erlebnisfeld eines Subjekts daher ohne 
angebbaren Sinn zu sein. Untersuchen wir jedoch die Verhältnisse genauer. 
Der erste, historische Satz: »Karl der Große regierte von 768 bis 814« 
ist zweifellos eine objektive Aussage, und zwar über einen von der Ge 
schichtsforschung seit langem festgestellten Sachverhalt wie die Aussagen 3 
und 4. Dennoch erscheint er uns nicht ganz so objektiv wie diese, oder doch 
von einer anderen Art Objektivität als sie. Denn in ihm ist ein Moment ent 
halten, das wir schon bei der Erörterung des epischen Tempus in Betracht 
ziehen mußten. Es ist ein Satz über eine geschichtliche Wirklichkeit, und 
damit ist, auch ohne daß wie in unserem Falle bestimmte Zahlenangaben 
Vorkommen, ein Zeitmoment, ein Zeitverhältnis in ihm enthalten. Indem 
aber ein Zeitverhältnis darin enthalten ist, ist ein Bezug zu einem Subjekt 
hergestellt, das die im Satze ausgesprochene geschichtliche Tatsache auf 
irgend eine Weise ‘erlebt’. Denn der Zeitpunkt eines Faktums oder Ereig 
nisses kann nicht angegeben werden, ohne daß er in Beziehung steht zu 
einem anderen Zeitpunkt, demjenigen, in dem die Angabe erfolgt. Daß Karl 
der Große 768 bis 814 regiert hat, ist zu irgend einer Zeit nach dem Jahre 
814 einmal festgestellt und auf geschrieben worden, und immer steht dann 
dieses Datum in zeitlichem Bezug zu dem, der es wieder zur Kenntnis 
nimmt. Das Schulkind, das im Jahre 1955 das Datum lernt, erlebt die da 
durch bestimmte Regierungszeit Karls des Großen insofern als es weiß, daß 
diese Zeit elf Jahrhunderte von ‘seiner Zeit’ zurück in der Vergangenheit liegt. 
Es hat zwar nicht wie der Briefschreiber Rilke an seine Schlittenfahrt eine 
‘Erinnerung’ - und das heißt: das Faktum der Regierungszeit Karls des 
Großen ist kein existentielles Faktum für dieses Schulkind, es gehört nicht 
in das Bewußtsein seiner eigenen Existenz (außer dem Vorgang des Lernens 
des Datums, was aber nicht das Datum selbst angeht). Indem es jedoch die 
Jahreszahl 814 ausspricht, bezieht es dieses Faktum auf ‘sich’, wenn auch 
nicht im Sinne der subjektiven Erinnerung, sondern der objektiven Ver 
gangenheit, in der es lokalisiert ist. Aber auch die noch so sehr in Bezug auf 
mich selbst objektive, d.h. unerlebte Vergangenheit steht noch im Raume 
meines Erlebnisfeldes, so weit entfernt sie auch von dem durch meine per- 
IJO
	        

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