Die Beschaffenheit des lyrischen Ich
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sungen erzählten Lieder nicht mit der jeweiligen fiktiven Gestalt in einen
sinnvollen Zusammenhang bringen können, sie nicht, wie die Meister-Lie
der, zu ihrer Gestaltung beitragen, erleben wir ihr jeweiliges lyrisches Ich
als gesondert. Das lyrische und das fiktionale Erlebnis dieser Romane bricht
auseinander. Denn da es trotz allem Romane sind, die eine fiktive Menschen-
und Ereigniswelt aufbauen, können wir keineswegs ohne weiteres beide
Elemente zusammen auf eine gemeinsame Stimmungsebene projizieren.
Sondern wir nehmen sozusagen immer wieder verwundert Kenntnis von
der Unverbundenheit, in der diese Elemente nebeneinander stehen, und das
heißt für die Struktur der Fiktion: der Unberührtheit der Romanfiguren von
ihren eigenen Liedern, ihrer eigenen ‘musikalischen’ Existenz. Die Meister-
Lieder erfüllen im fiktiven Raume ganz und gar die existentielle Wesenheit
des lyrischen Gedichtes, die Eichendorff-Lieder stehen in ihrem je eigenen
lyrischen, nicht-fiktiven kleinen Raum im großen fiktiven Raume des Ro
mans, ohne mit diesem zu verschmelzen. Sie zeigen daher vom logischen
Gesichtspunkt mehr vom Wesen des lyrischen Gedichts als die Wilhelm
Meister-Lieder: nämlich als zugehörig zu einem kategorial von der Fiktion
getrennten Erlebnis- und Sprachgebiet. Und es ist nur das Symptom dieses
ihres Verhaltens, daß sie in der Gedichtsammlung Eichendorffs einen min
destens ebenso legitimen wenn nicht legitimeren Ort haben als in den Ro
manen. Damit soll nicht behauptet werden, daß man dort ohne sie auskäme,
sondern umgekehrt ist gerade - wie auch vielfach geschehen ist - dieser Um
stand für die ästhetische Analyse der Romane fruchtbar zu machen.
Die Grundzüge der Logik und Phänomenologie der beiden Grundgattun
gen oder -kategorien, in die das Gebiet der Dichtung zerfällt, sind heraus
gestellt worden. Während die fiktionale Gattung dank der Verschiedenartig
keit ihrer Darstellungsmittel und der mimetischen Funktionsarten sich aus
mehreren Erscheinungsformen zusammensetzt, wird die existentielle Gat
tung allein durch die Lyrik gedeckt und ist mit dieser identisch. Denn nur
dort erleben wir ein echtes lyrisches Phänomen, wo wir ein echtes lyrisches
Ich erleben, ein echtes Aussagesubjekt, das der Garant für den Wirklich
keitscharakter der lyrischen Aussage ist, ob dieses Ich sich als Ich nennt oder
nicht. Es wurde zu zeigen versucht, daß dieser Umstand die Lyrik in ihrem
autochthon zentralen Wesen bestimmt, zugleich aber auch bestimmend für
ihre empfindliche Situation im allgemeinen Aussagegebiet der Sprache ist.
Und diese empfindliche, schwach markierte Differenz muß in die Struktur
definition der Lyrik einbezogen werden. Sie ist empfindlich, aber dennoch
prinzipiell wie in jedem einzelnen Falle angebbar. Die Grenze, die die lyri
sche von der nicht-lyrischen Aussage trennt, ist nicht durch die äußere Form
des Gedichtes gesetzt, sondern, wie gezeigt wurde, durch das Verhalten der