Die Sonderformen
210
tionalen Dichtung. Tritt sie als Kunstgebilde im Raume der Lyrik auf, ent
steht ein ein2igartiges Phänomen im Gesamtsystem der Kunst, das Bild
gedicht, mit dem wir uns nun zuerst beschäftigen und es in seinem Verhält
nis zur Ballade untersuchen wollen.
Ein Bildgedicht, hervorgegangen aus dem antiken Epigramm, beschreibt
ein Gemälde oder eine Skulptur. Und aus der wertvollen Untersuchung
Hellmut Rosenfelds über >Das deutsche Bildgedicht< geht hervor, daß die
Fälle selten sind, wo ein Bildgedicht andere als figürliche Gemälde zum Ge
genstände hat 1 . (Bei Skulpturgedichten fällt die Alternative überhaupt fort.)
Für den Ort im lyrischen Raum, auf den es in unserem Zusammenhang an
kommt, sind jedenfalls die Figurengedichte wesentlich, als welche sie, wie
gesagt, einen einzigartigen Punkt im System der Dichtung bedeuten, einen
Punkt, in dem sich Linien von der Lyrik und von beiden Formen der fiktio-
nalen Gattung treffen, und zwar so, daß der Ort des Bildgedichts im lyri
schen Raum äußerst empfindlich ist, die Struktur des Gedichtes durch ge
ringe Verschiebungen der Haltung des lyrischen Ich verändert werden kann.
Denn die von der bildenden Kunst geschaffene menschliche Gestalt kann
ebensowohl bloßer toter, wie auch immer ästhetisch erlebter, als auch ein
menschlich beseelter Gegenstand der Betrachtung sein. Und wenn wir nun
an einigen Beispielen die Haltung verfolgen, die das lyrische Ich des Bild
gedichtes einnehmen kann, wird sich von diesem recht versteckten Ort her
sowohl im Dichtungssystem wie in der Dichtungsgeschichte wiederum zei
gen, daß die logische Struktur des ersteren durch nichts anderes bedingt
ist als die menschliche Gestalt, d.h. die künstlerische Gestaltung des Objek
tes, das zugleich als ein Subjekt gestaltet werden kann.
Ich wähle aus der Fülle der Bildgedichte, die die deutsche Literatur auf
weist, zunächst ein Skulpturengedicht Herders und ein Gemäldegedicht
Rilkes aus. - Eins der sog. Bildepigramme 1 2 , die Herder an antike Traditio
nen anknüpfend verfaßt hat, beschreibt eine hellenistische Gruppe:
Amor und Psyche
Die Hand, die dieses holde Haupt berührt
Und still hinab es zum Geliebten führt,
Der leise Hauch, der um die Lippen schwebt
Und sanft den Arm und sanft den Busen hebt -
Der Blick, der nicht zur Sprache werden kann
(Denn Seelen schaun sich ineinander an)
Indes sich Herz Zum Herzen schüchtern drängt
Und Geist an Geist, an Lippe Lippe hängt -
1. HRosenfeld: Das deutsche Bildgedicht. Palaestra 199 ’35, passim
2. vgl. Rosenfeld, ebd. S. 122 und S. 12C, wo die Entstehung des griechischen Bildepigramms dar
gelegt wird.