Die Begriffsbildung 'Dichtung und Wirklichkeit'
II
das wir als das spezifisch logische von dem ästhetischen unterscheiden müs
sen. Hegel durchschaute sehr scharf die hier vorliegenden Verhältnisse,
wenn er als das eigentliche Material der Dichtung nicht die Sprache als
Bezug, sondern »die geistige Vorstellung und Anschauung« bezeichnet, in
solche auf die »das Material, durch welches sie sich kundgibt, nur noch den
Wert eines wenn auch künstlerisch behandelten Mittels für die Äußerung
des Geistes an den Geist hat.« 16 Deutlich trennt hier Hegel die logische von
der ästhetischen Seite der Dichtung, wenn er auch das Problem der Sprache
selbst nicht durchdacht und den Zusammenhang zwischen ihrer logisch
grammatischen und ihrer dichtungskonstituierenden Funktion nicht er
kannt hat. Worauf es aber in diesem Zusammenhang zunächst ankommt,
ist die Erkenntnis Hegels, daß die Dichtung darum in Gefahr ist, sich selbst
als Kunst, und damit das Kunstsystem, aufzulösen, weil sie dem allgemeinen
Vorstellungs- und Denksystem angehört, »das Vorstellen auch außerhalb
der Kunst die geläufigste Weise des Bewußtseins ist. « 16a In dieser Feststellung
tritt nun der Wirklichkeitsbegriff hervor, der allein das Kriterium für die
Form und die Formen der Dichtung enthält: die Wirklichkeit, die im Modus
des Gedachtseins existiert, d.h. als Gegenstand der Vorstellung und jeg
licher Art von Beschreibung. »Das Denken«, sagt Hegel, »verflüchtigt die
Form der Realität zur Form des reinen Begriffs, und wenn es auch die wirk
lichen Dinge in ihrer wesentlichen Besonderheit und ihrem wirklichen Da
sein faßt und erkennt, so erhebt es dennoch auch dies Besondere in das all
gemeine ideelle Element, in welchem allein das Denken bei sich selber ist«. 17
Die »zur Form des reinen Begriffes verflüchtigte Realität« ist die Realität,
die sowohl in der dichtenden wie in der nicht-dichtenden Sprache, »in
der Prosa des wissenschaftlichen Denkens« 18 aufgebaut werden kann. Was
eine gemalte Landschaft von einer wirklichen unterscheidet, ist unschwer
anzugeben. Nicht ebenso greifbar aber ist die Grenze, die die Beschreibung
einer Landschaft in einer Dichtung von einer außerdichterischen Land
schaftsbeschreibung trennt (wie wir hier noch in vorlogischer Unbestimmt
heit sagen wollen). Die Vorstellungswelt der Dichtung unterscheidet sich
von der ‘prosaischen’ außerdichterischen nicht durch die Kategorie des
Materials und der geometrischen Gestalt (wie Stoff oder Modell eines Ge
mäldes von diesem). Und Hegel stellte es denn auch als eine keineswegs
leichte Aufgabe fest, »die poetische Vorstellung von der prosaischen abzu
scheiden« 19 . Selbst machte er es sich dann freilich allzu leicht, wenn er »die
16. ebd. II, 260
16a. ebd. III, 234
17. ebd. III, 242
18. Wissenschaftliches Denken bedeutet bei Hegel (u. Fichte) theoretisches Denken, und auch dies
in dem weiteren Sinne dessen, was wir unten als Wirklichkeitsaussage bezeichnen.
19. Vorlesungen über die Ästhetik III, 234