Die Sonderformei
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Die an sich unbedeutende Erscheinung des Rollengedichts im lyrischen
Gebiete hat im Zusammenhang unserer Untersuchungen nur eine systema
tische Bedeutung. Das Rollengedicht stellt sich nämlich als die spezifisch
lyrische Entsprechung der epischen Großform der Icherzählung dar. Denn
es enthält das Problem des fingierten Aussagesubjekts, das nun, wenn auch
in merkwürdiger, aber genau den logischen Verhältnissen entsprechender
Umkehrung für die Phänomenologie der Icherzählung relevant wird. Denn
es ist nichts anderes als das fingierte Aussagesubjekt ,das die Icherzählung
zur dichtungstheoretischen Entsprechung nun nicht bloß des Rollenge
dichts, sondern auch der Ballade macht, und zwar zur invers entgegenge
setzten in Bezug auf diese. Ist diese ein struktureller Fremdling im lyrischen
Raum, so ist die Icherzählung ein struktureller Fremdüng im episch-fiktio-
nalen Raum. Eine logische Entsprechung, die aber nicht hindert, daß die
ästhetischen Probleme der beiden Sonderformen von sehr verschiedener Art
sind und die Icherzählung heute wie eh und je ihren bedeutsamen Platz in
der epischen Dichtung einnimmt.
n. Die Icherzählung
Die Icherzählung wird hier zunächst in ihrem eigentlichen Sinne betrach
tet, als eine autobiographische Form, die auf den Icherzähler bezogenes Ge
schehen und Erleben berichtet. Die Rahmenerzählung, wo ein Icherzähler
von dritten Personen berichtet, wird also vorläufig nicht berücksichtigt.
Entscheidend für den Ort der Icherzählung im Dichtungssystem ist nur die
echte, wir können sagen: die existentielle Icherzählung, Werke vom Typus
des Simplizissimus, des Werther, des Nachsommer, des Grünen Heinrich,
auch humoristische Ichromane wie Tristram Shandy, oder Schelmenromane
vom Gil Blas bis zu Felix Krall und viele andere Typen von Erlebnis
romanen mehr. Denn erst das Ich, das sich hier darstellt, ist ein struktureller
Fremdling im epischen Raum. Wie die Ballade ihre fiktionale Struktur in
das lyrische Gebiet mitgenommen hat, so der Ichroman seine existentielle
Struktur in das epische Gebiet. Man könnte versucht sein, diesen invers
gegensätzlichen Vergleich noch weiter zu führen und zu sagen, daß ebenso
wie die Ballade ihren epischen Stoff in das äußere lyrische Gewand des
Fremdgebietes gekleidet, die Form des Gedichtes, so dehne der Ichroman
seinen existentiellen Gehalt in die epische Breite aus. Aber mit solcher Struk-
turbestimmung würde man über das Ziel schießen. Es ist der Begriff des
Existentiellen selbst, der nicht ohne weiteres dem des Fiktionalen der Bal
lade entgegengesetzt und verglichen werden kann. Denn das Ich des Ich
romans ist nicht im selben vergleichbaren Sinne existentiell, also lyrisch zu