Die Icherzählung
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nennen wie der Inhalt der Ballade fiktional. Und wenn wir dies bedenken
und gleich näher darlegen werden, so treten wiederum die Gesetzmäßig
keiten des allgemeinen Sprachsystems hervor, die auf der einen Seite die des
Aussagegebietes, auf der anderen die der literarischen Fiktion sind. Die
Fiktion, die ein in sich geschlossenes Gebilde ist, ist ein solches in ihren
Groß- und Kleinformen, immer stellt sie sich her, wenn fiktive Personen
erscheinen. Der Begriff des Existentiellen aber, durch den wir den Ort der
Lyrik im allgemeinen Aussagesystem kennzeichneten, ist bedingt durch die
Aussage- oder Objekt-Subjektskala. Das heißt: nicht jede noch so sehr vom
Subjektpol her gelenkte Aussage hat schon den Charakter des Existentiellen
und noch weniger natürlich den des Lyrischen. Wie die spezifisch lyrische
Aussage sich bildet, wurde oben gezeigt: durch Zurückziehung der Aus
sage vom Objektpol, durch den Willen, nicht in einem Wirklichkeitszu
sammenhang zu fungieren. Auf der nicht-lyrischen Aussageskala aber gibt
es unendlich abgestufte Gradverhältnisse subjektiver und objektiver Aus
sagen. Und wenn wir den modernen und ausdrucksvollen Begriff des Exi
stentiellen zur Bezeichnung des Gebietes der um den Subjektpol gelagerten
Aussagen einführten, so unterhegt natürlich auch er der graduellen Inten
sität der Aussagemöglichkeiten. Nennen wir nun die Icherzählung existen
tiell, so ist dieser Begriff in Bezug auf sie ebenso graduell bestimmt wie in
Bezug auf - etwa die Autobiographie. Das heißt also erstens, daß die Ich
erzählung nicht an dem gleichen Ort im Dichtungssystem liegt wie die
Lyrik, und zweitens, daß dies schon darum ungereimt wäre, weil sie ihren
Wesensursprung nicht in der Lyrik, und nicht einmal im Rollengedicht,
sondern in der autobiographischen Aussagestruktur hat.
Was bedeutet diese an sich nicht neue oder überraschende Feststellung
für die Einordnung der Icherzählung in das logische System der Dichtung ?
Es zeigt sich, daß in der Tat erst diese Einordnung den autobiographischen
Ursprungscharakter der Icherzählung erhellt und die Gründe dafür auf
deckt, daß sie sich von der eigentlichen Autobiographie durch ihren Dich
tungscharakter unterscheidet. Daß wir hier auf strukturell ähnliche Verhält
nisse stoßen werden wie im Falle der Lyrik, eben das hat seinen Grund in
der Lyrik und Icherzählung gemeinsamen logischen Sprachstruktur, be
dingt durch ihrer beider Ort im Aussagesystem. Hier aber taucht sogleich
das Problem auf, das denn auch gerade die strukturelle und teilweise auch
ästhetische Problematik der Icherzählung ausmacht. Gehen wir zu den bei
den Urphänomen zurück, die sich uns in den beiden Kategorien oder Gat
tungen der Dichtung darbieten: dem Phänomen der Nicht-Wirklichkeit der
fiktionalen Gattung und dem der Wirklichkeitsaussage der lyrischen, so
werden wir nicht zugeben wollen, daß uns die Icherzählung im selben Sinne
das Erlebnis einer Wirklichkeitsaussage vermittelt wie das lyrische Gedicht.