Full text: Die Logik der Dichtung

Die Begrijfsbildung 'Dichtung mul Wirklichkeit’ 
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stets nur einmalige individuelle Phänomene. Auch »philosophische Maxi 
men, die den Personen einer Tragödie oder Komödie in den Mund gelegt wer 
den, haben dort nicht mehr das Amt von Begriffen, sondern von Charakte 
ristiken dieser Personen: genau so wie das Rot auf einer bemalten Figur 
nicht mehr als Begriff der roten Farbe im Sinne der Physiker auftritt, son 
dern als Charakterisierungselement jener Figur . . . Ein Kunstwerk kann 
voll von philosophischen Begriffen sein . . . Aber trotzdem ist das Resultat 
des Kunstwerkes eine Intuition« 21 , d.h. also keine theoretische Erkenntnis. 
So unbestreitbar dies zum mindesten für das hier gewählte und von Croce 
bezeichnender-, aber auch etwas verdächtigerweise überhaupt bevorzugte 
Beispiel der dramatischen Dichtung ist, so ist doch die Anwendbarkeit der 
Expressionsästhetik dadurch vermindert, daß der Anwendungsbereich der 
intuitiv-expressiven Erkenntnisform zu weit ist. Denn wenn alle Aussagen, 
die Einzelphänomene meinen und darum auch selbst die ‘Geschichte’, im 
Sinne von Geschichtswissenschaft, als Intuition bezeichnet und unter den 
allgemeinen Begriff der Ästhetik geordnet werden, so gibt es keine spezi 
fische Kunst-, d.h. hier Dichtungswissenschaft, mehr und entfällt jede Mög 
lichkeit, den dichterischen ‘Ausdruck’ von äußer-dichterischem zu unter 
scheiden. Ist die Aussage »dieses Glas Wasser«, die ich etwa in einem Wirk 
lichkeitszusammenhang ausspreche, eine ‘Intuition’ so gut wie dieselbe Aus 
sage in einem Dichtungszusammenhang, so ist die Struktur der Dichtung 
nicht mehr erkennbar. Und kann umgekehrt, so ist wenigstens zu fragen, 
der ‘theoretische’ Sinn eines noch so sehr durch den Kontext als intuitiv 
ausgewiesenen Begriffes aus ihm eliminiert werden ? Rickert rührt einmal an 
dies Problem, wenn er (ohne Bezugnahme auf Croce) in der Einleitung 
seines Buches über Goethes Faust die Frage aufwirft, ob »bei Kunstwerken, 
die aus Worten und Sätzen bestehen, der künstlerisch verstehbare Sinn, den 
sie als Dichtungen haben, vollständig von dem Sinn zu trennen ist, den ihre 
Worte und Sätze außerdem noch als theoretischen Sinn zum Ausdruck brin 
gen können«? 22 
In der Tat ist das von Hegel schon scharf ins Auge gefaßte Problem des 
Ortes der Dichtung im allgemeinen Sprachsystem, damit aber auch das spe 
zifische Wirklichkeitsproblem, das für die Dichtung relevant ist, nicht ge 
löst, wenn man auf eine so diktatorische, einfach festsetzende Weise wie 
Croces die Sprache, genauer: den Bedeutungsgehalt der Sprache durch den 
Kontext bestimmt, in dem Aussagen und Wörter stehen. Gewiß hat, wie 
wir sehen werden, der Kontext eine große, entscheidende Bedeutung für 
die Bestimmung der Dichtungsformen und -arten. Aber diese Bedeutung 
kann nicht einfach ‘verliehen’, durch irgend eine willkürliche Etikette wie 
21. Ästhetik als Wissenschaft Lpz ’30, 1,3 f 
22. HRickert: Goethes Faust. Tbg ’32, 23
	        
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