Die Begriffsbildung ‘Dichtung und Wirklichkeit'
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Dichtung und Wirklichkeit auch für Ingarden noch nicht erschöpfend be
schrieben. Daß die Wirklichkeit dennoch der Stoff der Dichtung ist, wird so
ausgedrückt, »daß die Satzkorrelate ihrem Gehalte nach in die reale Welt
hinausversetzt werden«. 25 Aber die Rein-Intentionalität wird durch die Be
stimmung aufrechterhalten, daß »die Hinausversetzung nicht in dem Modus
des vollen Ernstes sondern in einer diesen Ernst nur vortäuschenden Weise
vollzogen wird: Die rein intentionalen Sachverhalte bzw. Gegenstände wer
den nur als real existierende angesprochen, ohne daß sie mit dem Realitäts
charakter durchtränkt wären«. 26 Ingarden meint nun, daß es die so definier
ten »quasi-urteilsmäßigen Behauptungssätze« seien, die »die Illusion der
Realität.. . hervorrufen«, daß sie »eine suggestive Kraft mit sich führen,
die uns bei der Lektüre erlaubt, uns in die fingierte Welt hineinzuversenken
und wie in einer eigentümlich nicht-wirklichen und doch wirklich scheinen
den Welt zu leben«. 27 Diese Reduktion des Nichtwirklichkeitscharakters
einer mimetischen Dichtung auf die Sätze, aus denen sie besteht, scheint je
doch das Phänomen keineswegs befriedigend zu erklären. Ja sie stellt letzt
lich nichts anderes als einen Zirkel dar. Die Sätze oder Aussagen eines Ro
mans werden als ‘Quasi-Aussagen’ erst dadurch konstituiert, daß sie in
einem Roman stehen. Nicht der Satz an sich »Alles ging drunter und drüber
im Hause Oblonsky«, mit dem Tolstois >Anna Kareninat anfängt, ruft als
solcher die Illusion der Realität hervor. Denn seiner Form nach kann er,
losgelöst aus dem Romankontext, eine Mitteilung über eine Realität sein:
wenn er etwa in einem Briefe steht. Die Nichtwirklichkeit der Romanwelt
wird, wie wir sehen werden, durch ganz andere Funktionen der Sprache er
zeugt, nämlich eben durch echte Funktionen, die die Ursache der Phäno
mene sind. Die Bezeichnung der Sätze eines Romans oder Dramas als Quasi-
Urteile besagt aber nichts anderes als die tautologische Tatsache, daß wir,
wenn wir einen Roman oder ein Drama lesen, wissen, daß wir einen Roman
oder ein Drama lesen, d. h. uns nicht in einem Wirklichkeitszusammenhang
befinden. Ingarden - und freilich nicht er allein - hat an dem entscheidenden
Faktor vorbeigesehen, der »die mysteriöse Leistung des literarischen Kunst
werks« 28 hervorruft und den Aristoteles als die Mimesis handelnder Men
schen bestimmt hat. Eklatant tritt dieses Mißverständnis in Ingardens Ver
such hervor, die Erscheinung des historischen Romans zu bestimmen. Für
diese Kategorie stimmt ihm der Begriff des Quasi-Urteils nicht mehr ganz.
Hier, meint er, »kommen die Quasi-Urteilssätze den echten Urteilssätzen
um einen Schritt näher« 28 , denn es wird auf eine als real ausgewiesene Reali
25. ebd. S. 168
26. ebd. S. 176
27. ebd. S. 180
28. ebd. S. 180