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Die logischen Ichbegriffe
letzteren dennoch für den ersteren einsetzen. Denn im Begriffe der Aussage
verbinden sich die beiden Sinnmomente Urteil und (grammatischer) Satz
zu einer Bedeutungseinheit, wie denn Sigwart den Satz als das sinnliche
Zeichen des Urteils bezeichnet und den Urteilsvorgang dahin definiert, daß
ich etwas von etwas aussage 31 . Der Begriff Aussage bedeutet hier und im
Folgenden: Aussage eines Subjekts über ein Objekt bzw. einen Sachverhalt.
Der Inhalt der Aussage ist also ihr Objekt. Die Aussage kann in der Form
eines objektiven Behauptungssatzes auftreten, in der das aussagende Sub
jekt nicht in der Ichform, der grammatischen i. Person, erscheint. Oder die
ses erscheint, sei es in personal- oder possessivpronomischer Form, in der
Aussage. Sätze wie: Die Ähren wogten sacht (Beispiel i), Der Schlitten bog
aus (Beispiel 2), Die Mittagssonne stand über der kahlen Höhe des Julier-
passes (Beispiel 3) sind objektive Aussagen. Ein Satz von der Form: Ich sah
die Ähren wogen, ist eine subjektive Aussage.
Ob aber die Aussage sich objektiv, das ist losgelöst vom Aussagesubjekt
darstellt, oder subjektiv, d. h. dieses in seine Form einschließt - immer ist
ein aussagendes Ich, ein Aussagesubjekt, vorhanden, gleichgültig ob wir es
mit einem bestimmten Subjekt identifizieren können oder nicht. Unsere drei
Beispiele haben also die Form objektiver Behauptungssätze. Von ihnen ge
hören zwei dem Gebiete der Dichtung, der Lyrik (1) und der Epik (3) an,
während Beispiel 2, die Stelle aus dem Rilkebriefe, nicht der Dichtung, son
dern der Wirklichkeit, näher bestimmt der geschichtlichen Wirklichkeit an
gehört: denn ein Brief ist ein biographisches und damit historisches Doku
ment, das wir (sofern seine Echtheit ausgewiesen ist) für die Biographie
Rilkes benutzen können. Obwohl also die Form unserer drei je aus Behaup
tungssätzen bestehenden Texte in allen die gleiche ist, oder sich jedenfalls
so ausnimmt, bezeichnen wir die drei Aussagesubjekte, die sie je konstitu
ieren, nach der Art des Kontextes, in dem diese Aussagen stehen: das Aus
sagesubjekt des lyrischen Gedichtes als das ‘lyrische Ich’, das des Briefes als
das ‘historische Ich’ und das der Romanstelle als das ‘epische Ich’. Dieses
sind die drei logischen und sprachtheoretischen Ichbegriffe, aus denen sich,
wie zu zeigen sein wird, das Gebilde Dichtung in seiner Totalität, aber zu
gleich in seiner in sich verschiedenartigen Struktur, bezeichnet durch die
drei Gattungen (wie wir vorläufig noch im traditionellen Sprachgebrauch
sagen), entwickeln läßt.
Dazu sind einige nähere Kommentare zu geben. Es fällt auf, daß einer
seits nur zwei dieser Ichbegriffe, das lyrische und das epische Ich, sich als
dichtungskonstituierende ausweisen, anderseits die dramatische Dichtung als
solche noch nicht kenntlich gemacht ist. Was zunächst diese betrifft, so hat
dies seinen Grund darin, daß sie als logische Struktur in der epischen Struk
31. Sigwart: Logik I, Tbg ’21, 29