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DIE FIKTIONALE ODER MIMETISCHE GATTUNG
i. Die epische Fiktion
Historisches und fiktionales Erzählen
Den direktesten Zugang zu dem logischen System der Dichtung gewin
nen wir durch die Analyse der epischen oder erzählenden Dichtung. Dabei
bedeutet aber die Rede von einem direkten Zugang nicht, daß diese Analyse
von einfacher Art wäre. Es handelt sich vielmehr um die kompliziertesten
Verhältnisse, die es im Bereiche nicht nur der Dichtung, sondern der sprach
lichen Funktionen wohl geben kann. Aber wenn es in didaktischer Hinsicht
sich oftmals so verhält, daß man von einfachen Verhältnissen zu kompli
zierten fortschreiten muß, so bietet die Struktur der Dichtung den umge
kehrten Fall dar: die einfacheren Strukturen erhellen sich für die Erkenntnis
erst aus der komplizierten Struktur der erzählenden Dichtung.
Die Ursache dieser Kompliziertheit ist das Erzählen der erzählenden Dich
tung selbst, das denn auch nicht ohne Grund allmählich zu einem zentralen
Gegenstand der literaturtheoretischen Betrachtungen geworden ist. Wenn
aber die Literaturtheorie bisher das Wesen des epischen Erzählens nicht
klargelegt hat, so liegt das daran, daß sie den Vorgang des Erzählens als
einen homogenen aufgefaßt hat, d. h. das Erzählen der epischen Dichtung,
das wir das epische oder fiktionale Erzählen nennen werden, für einen Vor
gang von gleicher Beschaffenheit wie das nicht-epische, und das heißt das
historische Erzählen oder, wie wir gleich sagen können, die Wirklichkeits
aussage gehalten hat. Der kontradiktorische Gegensatz episches und nicht
episches Erzählen hat hierbei seinen guten Sinn. Denn das nicht-epische Er
zählen ist darum identisch mit dem historischen Erzählen, weil es überhaupt
nur diese beiden, voneinander strukturell verschiedenen Formen des Er
zählens gibt. Das heißt: diese Formen unterscheiden sich nicht nur, ja über
haupt nicht dadurch, daß ihnen, wie es Ingardens Theorie von den Quasi
urteilen zugrunde liegt, in dem einenFalle der Sinn der Nicht-Wirklichkeit,
im anderen der der Wirklichkeit beigemessen würde. Sondern es handelt
sich um zwei völlig verschiedene, verschiedene Zwecke verfolgende Funk
tionen des Erzählens, durch die es bewirkt wird, daß die erzählende Dich
tung, und in ihrem sozusagen systematischen Gefolge die dramatische, aus
dem Aussagesystem der Sprache ausgeschieden werden. Hier aber muß aus