Die fiktionale oder mimetische Gattung
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drücklich betont werden, daß der Begriff des epischen oder fiktionalen Er
zählens nur für die Er-Erzählung, nicht aber für die Ich-Erzählung zutrifft.
Nur die Er-Erzählung ist eine epische Fiktion, oder eine Mimesis, im strengen
literaturtheoretischen Sinne dieses Begriffes. Es handelt sich also in diesem
Kapitel um die definierende Beschreibung des Phänomens und Begriffes der
literarischen Fiktion, der fiktionalen oder mimetischen Gattung der Dich
tung, deren komplizierteste, aber logisch auch aufschlußreichste Form die
epische Fiktion, das fiktionale Erzählen, ist.
Zur Beschreibung der epischen Fiktion finden wir, wie gesagt, den direk
testen Zugang durch eine vergleichende Analyse des fiktionalen und des
historischen Erzählens. Denn auch hier können wir nicht einfach apodik
tisch, durch bloße Benennung, bestimmen, von welcher Art das eine und
das andere sei, sondern müssen ihr Verhalten selbst durch Beobachtung bei
spielhafter Texte zu erkennen versuchen. Wir gehen zu diesem Zwecke von
unserem Beispiel 3, dem Anfang des >Jürg Jenatsch< aus:
Die Mittagssonne stand über der kahlen von Felshäuptern umragten Höhe des Julier-
passes im Lande Bünden. Die Steinwände brannten und schimmerten unter den senkrech
ten Strahlen...
Wir stellten im vorigen Kapitel (S. 18) zunächst fest, daß dieser Roman
anfang dieselbe logische Struktur aufweist wie die Rilkesche Briefstelle (und
das aufgelöste Eichendorffsche Gedicht, das wir jedoch für die Zusammen
hänge dieses Kapitels beiseite lassen). Daß diese Romanstelle der Anfang
eines Romans ist, ist nicht entscheidend. Wesendich ist hier nur, daß sie so
geartet ist, daß sie losgelöst aus ihrem Zusammenhang und Kontext (wie
wir denn auch anfangs verfuhren) keineswegs als Romanstelle erkannt wer
den könnte, und dies um so weniger in diesem Falle, als der Julierpaß in
Graubünden der uns bekannten geographischen Wirklichkeit angehört.
Diese Schilderung könnte als solche auch in einem historischen Dokument
stehen: in einem Briefe, einem Tagebuch, einer Reiseschilderung u. dgl.
mehr. Dabei sei darauf aufmerksam gemacht, daß der Begriff ‘historisch’
in unseren Zusammenhängen nicht in seinem engeren, durch den üblichen
Sprachgebrauch meist unmittelbar anklingenden Sinne gebraucht wird, als
Bezeichnung der geschichtswissenschafdich festgestellten Tatbestände und
Ereignisse, sondern als Inbegriff der geschichtiichen Wirklichkeit. Histori
sche Aussage in diesem ihrem weitesten Sinne bedeutet also Wirklichkeits
aussage, wobei jedoch schon hier erwähnt sei, daß der Begriff der Wirklich
keitsaussage nicht durch die historische Aussage gedeckt ist, sondern auch
andere Arten von Aussagen umfaßt (wie wir unten näher sehen werden).
Als historische Aussagen sind im Bereiche des Schrifttums (wenn wir nun
von jeder Form mündlicher Aussage absehen) Briefe, Tagebücher etc., ne