Die epische Fiktion
ben allen anderen, mehr oder weniger ‘objektiven’ Formen historischer
Dokumente zu bezeichnen, und sie können, sofern sie als echt und zuver
lässig beglaubigt sind (was festzustellen eben die Aufgabe der Geschichts
wissenschaft ist), für die Beschreibung der jeweiligen Wirklichkeit benutzt
werden.
Unsere Romanstelle könnte, losgelöst aus dem Roman, aus einem solchen
historischen Dokument stammen, wie umgekehrt die RilkeSche Briefstelle
in einem Roman stehen könnte. Wir sind an dem Punkte, an dem wir den
Gesichtspunkt des Kontextes in unsere Beweisführung aufnehmen müssen.
Die Schlittenfahrt, die im Briefe Rilkes beschrieben ist, erleben wir darum
als einen wirklich stattgefundenen Vorgang, weil sie in einem Briefe be
schrieben ist, der sich dadurch, daß er in der Sammlung Rilkescher Briefe
abgedruckt ist, als ein echter Brief ausweist (in der Form, in der er uns nun
zugänglich ist). Aber was besagt nun dieser Begriff der Wirklichkeit? Wel
che Komponenten enthält das Erlebnis der Wirklichkeit dieses im Briefe
geschilderten Vorgangs ? Erst diese Frage führt uns über die bloße Konsta
tierung und tautologische Bestimmungen hinaus.
Dieses Wirklichkeitserlebnis enthält zweierlei. Da das hier Berichtete
nicht als Traum oder Phantasie sondern als wirklich Erlebtes geschildert
ist, so besagt dies, daß die hier geschilderten Gegenständlichkeiten: die
Lindenallee, die Seitenflügel des Schlosses, usw. vorhanden sind oder es zur
Zeit der Schilderung waren, und zwar unabhängig davon, ob von ihnen be
richtet wird oder nicht. Eben hierdurch aber ist die Briefschilderung als eine
Wirklichkeitsaussage definiert. - Aber damit ist deren Bestimmung noch
nicht erschöpft. Ein zweites mit dem ersten notwendig, ja polar verbundenes
Strukturelement kommt hinzu. Ebenso und zugleich wie wir uns der Wirk
lichkeit des Aussageobjekts bewußt sind, sind wir uns auch der Wirklichkeit
des Aussagesubjekts bewußt, gleichgültig ob wir Anlaß haben, uns für des
sen besondere Individualität zu interessieren oder nicht. Dies kommt, wie
wir in späteren Zusammenhängen darlegen werden, auf die Art der Wirk
lichkeitsaussage an. Aber daß wir überhaupt über die Wirklichkeit oder die
wirkliche Existenz des Aussagesubjekts reflektieren können, ist schon da
ran erkennbar, daß wir immer die Frage nach dem Zeitpunkt seines Berich
tes stellen können. Das heißt, daß der Bericht auf den Zeitpunkt der Aus
sage, damit auf die Stelle des historischen Ich in der Zeit bezogen ist oder
jederzeit bezogen werden kann. Und da zwischen Aussagesubjekt und -Ob
jekt ein polares Verhältnis besteht, so besagt dies wiederum nichts anderes
als die schon an sich ersichtliche Tatsache, daß die Frage nach der Zeit auch
für das Objekt, den Inhalt der Aussage, gilt. Die mögliche Frage nach der
Zeit des Geschehens oder Sachverhaltes ist die Frage nach seiner Wirklich
keit - und dies ist keine andere Definition der Wirklichkeit als die der Un-