Full text: Die Logik der Dichtung

Die fiktionale oder mimetische Gattung 
abhängiglceit vom Aussagesubjekt, sondern mit dieser mitgegeben. Was in 
der Zeit sich vollzieht, ist wirklich, und vollzieht sich eben darum unab 
hängig davon, ob es zum Objekt einer Aussage wird oder nicht. 
Zu dieser für die Erhellung der Dichtungsstruktur entscheidenden Be 
stimmung der Wirklichkeit bzw. der Wirklichkeitsaussage sind noch einige 
Ergänzungen hinzuzufügen. Was in der Zeit sich vollzieht oder ist, voll 
zieht sich auch an einem Orte. Das Koordinatensystem der Wirklichkeit ist 
durch die Koordinaten der Zeit und des Raumes bestimmt und beschrieben. 
Für die Beschreibung der Wirklichkeit wird je nach ihrer Art die eine oder 
die andere Koordinate relevant werden. Für jede Art von Gegenstandsbe 
schreibung, die wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche, ist die Exi 
stenz des Objekts im Raum dominierend, für die Beschreibung der ge 
schichtlichen Wirklichkeit seine zeitliche. Doch es bedarf der Erwähnung 
nicht, daß die unzähligen Arten und Formen der Beschreibung unzählige 
Grade der Verbindung räumlicher und zeitlicher Bestimmung enthalten. 
Eine weitere Ergänzung des Wirklichkeitsbegriffes betrifft unsere Defi 
nition, daß das Wirkliche unabhängig von einem Aussagesubjekt existiere. 
Denn in sie haben wir vor allem mit Hinsicht auf das Dichtungsproblem 
auch die Frage nach dem Unwirklichen einzubeziehen. Es darf das Unwirk 
liche nicht mit dem Nicht-Wirklichen oder Fiktiven verwechselt werden. 
Hier haben wir unser Augenmerk nicht so sehr auf den Objektpol wie auf 
den Subjektpol der Wirklichkeitsaussage zu richten. Der Inhalt einer Traum 
oder Wachphantasie, einer Illusion, einer Lüge scheint darum nicht unter 
den Begriff der Wirklichkeitsaussage zu fallen, weil er ja nicht unabhängig 
sondern im Gegenteil durchaus abhängig von dem aussagenden Subjekt ist, 
nämlich von ihm erzeugt oder erfunden. Wie er denn auch, als unwirklich, 
keinen Ort in der Zeit zu haben scheint. Sehen wir aber näher zu, rückt 
auch die Unwirklichkeitsaussage unter den Gesichtspunkt oder die Kate 
gorie der Wirklichkeitsaussage. Das Unwirkliche ist nicht der kontradikto 
rische Gegensatz, sondern nur ein graduell abgestuftes Privativum des 
Wirklichen. Wie weit eine Phantasie oder Lügenaussage sich vom Wirkli 
chen entfernt, kann nicht mit logischer Genauigkeit angegeben werden. 
Und zwar darum nicht, weil das Aussagesubjekt wirklich ist, der wirkliche 
Bezugspunkt des Ausgesagten, dessen Wirklichkeits- bzw. Unwirklichkeits 
gehalt sich durch Verifizierung, Wahrheitsnachweis, ausweisen kann. Auch 
der Träumende, Phantasierende, Lügende und Sich-Irrende vollzieht Wirk 
lichkeitsaussagen, möge auch deren Inhalt ‘irreal’ d. h. nicht durch eine je 
weilige, feststellbare Wirklichkeit verifizierbar sein. Aber das Unwirkliche 
ist letztlich nichts als die immer verschiebbare Grenze der Erfahrens- und 
Erlebensmöglichkeit und, wie wir sehen werden, durch strenge logische Ge 
setzmäßigkeit von der Fiktion unterschieden. 
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