Die fiktionale oder mimetische Gattung
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Romanhelden, der sich in Rom befindet: »Der Autor steht vor der Wahl,
ob er erzählend mit einem ‘dort’ oder ‘hier’ fortfahren soll. ‘Dort’ stapfte er
den lieben langen Tag auf dem Forum herum, dort... Es könnte ebensogut
‘hier’ heißen; was ist der Unterschied ? Das ‘hier’ impliziert eine Versetzung
Mohammeds zum Berge, während ein ‘dort’ an solcher Kontextstelle be
deutet, daß Mohammed an seinem Wahrnehmungsort bleibt und eine Art
Fernschau vollzieht.« 31
Dies Beispiel ist in hohem Maße geeignet, die hier vorliegenden Verhält
nisse zu verwischen. Und dies eben dadurch, daß ein Wirklichkeitsumstand
mit einem fiktiven Moment verbunden ist - was nicht an sich etwa verboten
wäre, aber zum Zwecke der Erhellung des in Frage stehenden Problems un
geeignet ist. Es zeigt denn auch, daß, wie schon erwähnt, derUnterschied, der
zwischen einer Wirklichkeitsaussage und einer Romanangabe besteht, nicht
beachtet und gespürt ist. Damit werden wir aber zugleich auf den Umstand
geführt, der bewirkt, daß hinsichtlich der Raumdeiktika dieser Unterschied
nicht ohne weiteres an dem Wortlaut der Sätze abgelesen werden kann wie
es bei den Zeitdeiktika mit Hilfe des Präteritums möglich ist. Spricht Bühler
von der ‘Deixis am Phantasma’, so hat er mit dem Begriffe Phantasma die
weitere griechische Bedeutung der Vorstellung überhaupt im Auge, gleich
gültig ob es sich um die Vorstellung realer Gegebenheiten oder ‘erphanta-
sierter’ Gebilde handelt. Und es ist kein Zufall, daß er seine Versetzungs
theorie nur an Raumdeiktika aufzeigt. Wie immer erkenntnistheoretisch
physikalisch Raum und Zeit auch zusammengehören, so ist die Kategorie
des Raumes vor der der Zeit dadurch ausgezeichnet, daß sie die »Anschau
ungsform des äußeren Sinnes« (Kant) ist, d. h. sich psychologisch jederzeit
in konkrete Raumwahrnehmung oder -Vorstellung umsetzen kann. Das
Räumliche können wir wahrnehmen und damit auch vorstellen, während
wir die Zeit, die »Anschauungsform des inneren Sinnes«, nicht wahrneh
men und vorstellen, sondern nur wissen, d.h. sie nur in begrifflicher Weise
zum Bewußtsein bringen können. Wir können in der Zeit nicht ‘zeigen’ wie
wir es im Raume können, und als Bühler die veranschaulichende Kraft der
Zeigewörter aufzeigen wollte, beschränkte er sich wohlweislich auf die
räumlichen. Aber dabei bemerkte er nicht, daß es selbst auch im Bereiche der
Raumvorstellung ein Gebiet gibt, in dem wir nicht zeigen, sondern wiederum
nur wissen können - wenn auch das Wissen, um das es sich dabei handelt,
einen anderen Sinn hat als das des Zeitwissens. Im fiktiven Raum können
wir nicht zeigen, und die Versetzungstheorie versagt im Bereiche der Fik
tion.
Dies wird schon deutlich, wenn wir in Bühlers Beispiel den geographisch
bekannten Ort Rom als Schauplatz der Romanhandlung durch einen er
31. KBühler: Sprachtheorie, 137/38