Die epische Fiktion
fundenen Ort ersetzen. Wenn Bühler meint, daß der Leser sich durch das
Wort ‘hier’ zum Romanhelden hin versetze, durch das Wort ‘dort’ aber ver
anlaßt werde, »nur eine Fernschau« zu vollziehen, so wird sogleich ersicht
lich, daß in Bezug auf einen erfundenen Ort sowohl ein Hier wie ein Dort
als Raumbeziehung zwischen meiner realen Existenz und der fiktiven Ört
lichkeit, in der sich der Romanheld bewegt, sinnlos ist. Daß hier etwas nicht
stimmt, hat Bühler selbst gespürt, wenn er hinzufügt, daß »das Märchen
land psychologisch gesprochen im Irgendwo liegt, das mit dem Hier nicht
angebbar verbunden ist«. 31a Aber er hat nicht erkannt, daß dies nicht auf dem
mehr oder weniger erphantasierten Schauplatz des ‘Märchens’, d.i. der fik
tiven Welt der Dichtung, sondern auf dem fiktiven Bezugssystem beruht,
das in ihr waltet. Auch in dem in Rom spielenden Roman bedeutet ein Hier
nicht, daß sich Mohammed, d. i. Autor und Leser, zum Romanhelden ver
setzt, ein Dort, daß er von seinem Orte aus eine Fernschau vollzieht, son
dern ein Dort ist nicht anders als ein Hier auf die fiktive Gestalt, die fiktive
Ich-Origo der Romanperson bezogen. Dies wird sogleich ersichtlich, wenn
man ein deiktisches Zeitadverb mit dem Dort verbindet: »dort stapfte er
heute den ganzen Tag herum« kann es ebenso gut heißen wie »hier stapfte
er heute .. .«.
Nun ist aber das Raumadverb ‘hier’ ebenso wie das Zeitadverb ‘jetzt’ am
wenigsten geeignet, darüber aufzuklären, was sprachlich mit den Raum-
deiktika vorgeht, wenn sie in der Fiktion stehen. Der ursprünglich deikti
sche Sinn des Hier ist im Sprachgebrauch recht abgenützt worden. Nicht
nur kann überall, auch im historischen Bericht, der Wirklichkeitsaussage,
ein Hier für ein Dort eingesetzt werden, ohne daß dabei eine gedankliche
Standpunktsverschiebung bemerklich wird, es fungiert auch in allen mög
lichen, keineswegs nur räumliche Verhältnisse bezeichnenden Zusammen
hängen, z.B.: hier müssen wir einen Augenblick anhalten, und dergleichen
mehr. Wie es sich mit den Raumdeiktika in der Wirklichkeitsaussage einer
seits, in der Fiktion anderseits verhält, können wir weit überzeugender an
den das Hier erweiternden Raumangaben links, rechts, vor, hinter, nach
Westen, nach Osten usw. erkennen. Zunächst können wir freilich fragen,
der Versetzungstheorie Bühlers recht gebend, ob wir uns nicht auch in
einem Roman in ein anschaulich geschildertes Zimmer ‘versetzt’ fühlen, so
daß wir uns mit den Personen nach links und rechts, vor und hinter ihnen
orientieren können. Bühler zeigt, wie eine solche Orientierung in der an
schaulichen Vorstellung vor sich geht, nämlich durch Beteiligung »des prä
senten Körpertastbildes. Köln-Deutz: linksrheinisch - rechtsrheinisch -
wenn ich mir dieses Sachverhaltes auf eine Besinnung hin deutlich bewußt
werde, verspüre ich die Bereitschaft meiner Arme, hic et nunc als Weg-
31a. ebd. S. 134
69