81. MARZ 1906
BAUZEITUNG
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Urteil soll man anfechten, sondern die Grundlage ihres
Urteils. Denn ihr Urteil ist eine notwendige Konsequenz
einer Anschauung, die in der Kunst einen Schmuck des
Lebens, nicht eine notwendige Lebensäußerung sieht. Es
ist kein Wunder, daß namentlich kirchliche Kreise gegen
das Nackte eingenommen sind: Ihnen gilt die Kunst als
wertvoll um dessen willen, was sie darstellt, uns um dessen
willen, wie sie darstellt. Die kirchlichen Kreise wünschen
von der Kunst das über dieser Welt Stehende; wir leugnen
die Möglichkeit, solches zu geben, und wollen das auf
dieser Welt Begründete. Jene fordern Stil, wir An
schauung. Einst vielleicht, nachdem alle hundertfach das
Nackte sehen, und nachdem sie die richtige ,Gene‘ auch
in der Kunst überwunden, werden sie erkennen, daß sie
selber und nicht die nackte Figur an dieser Befangen
heit schuld waren.
Aber dieser Zustand wird nur erreichbar sein durch
ernstlichen Kampf gegen die ünkunst. Ich würde das
Geschrei der Preidenkenden nicht scheuen, sondern gern
in den Kampf gegen die Schweinerei mit eintreten,
fürchtete ich mich nicht vor der Gesellschaft, in die ich
damit geraten würde: Vor jenem Kreis der sittlichen
Maulhelden, die alles erschlagen wollen, was kunstvoll,
was sinnlich ist: Oder vor jenen Heuchlern, die heute
noch der oder jener Aeußerung kecken künstlerischen
Uehermutes das Wort reden, um sie dann, wenn sie die
Macht haben, erst recht zu unterdrücken. Auch mir
sind manche Photographien in unsern Schaufenstern im
Hinblick auf unsre Jugend bedenklich: Es sind das jene,
die das Nackte enthüllen, jene weiblichen ,Schönheiten',
die möglichst viel, doch nicht genug zeigen. Man gebe
dem jungen Mann, der mit unsittlichen Gedanken an
diese Bilder herantritt, ein paar hundert Photographien
nackter Akte: Sie sind das beste Beruhigungsmittel für
seine erregten Sinne: Das heißt, man zeige das Enthüllte
offen, man zeige es zu langer eingehender Betrachtung;
Darin liegt die unmittelbar wirkende, reinigende Kraft!
Das weiß jeder, der einmal vor dem Akte im Zeichen
saal gesessen hat. Und das begreift der nicht, der vom
Nackten nur Teile, und zwar nur in Augenblicken sinn
licher Erregung sah.“
Professor Hermann Billing bedauert, aus Mangel an
Zeit sich nicht ausführlicher äußern zu können, und ver
weist auf einen Artikel von Dr. Kisa über „Das Nackte
in der Kunst“ in der „Zeitschrift der Rheinlande“ (Ver
lag Fischer & Prancke in Düsseldorf). Wie bekannt,
hat Billings neuer Brunnen in Karlsruhe, den wir heute
ahhilden, ähnliche Angriffe wie Arnbergs Trauzimmer er
fahren. Man brachte sogar eine Beschwerde an den Stadt
rat zustande, auf die aber die Antwort erfolgte: „Der
Brunnen sei nicht geeignet, anstößig zu wirken, wenn man
ihn mit anständiger Gesinnung betrachte.“ Schm.
LAGERHAUS IN STUTTGART-OSTHE1M (SCHLUSS)
In Nr. 12 der „Bauzeitung“ ist das Lagerhaus von Archi
tekt Professor Th. Fischer in architektonischer Hinsicht
erläutert worden. In der Folge soll die konstruktive Seite
dieses in jeder Hinsicht interessanten Baues an Hand
der Ausführungspläne und statischen Berechnung näher
erörtert werden. Dem sei, den Eisenbeton im all
gemeinen betreffend, vorausgeschickt, daß bereits be
deutende Wohn-, Waren- und Lagerhäuser mit zehn und
mehr Stockwerken zahlreich in den Vereinigten Staaten
von Nordamerika zur Ausführung gekommen sind.
Die größten Spannweiten, die überhaupt mit dem Eisen
beton erreicht wurden, sind ebendaselbst zu finden, und es
kann ein Fall in Los Angeles, Kalif., genannt werden, wo
ein Warenhaus eine Ueherdeckung aus Eisenbeton mit
31 ra weit gespannten Balken erhielt. Es ist dies die
bis jetzt erreichte größte Spannweite. Der Unternehmungs
geist der Amerikaner ist aber weiter gegangen und hat
bereits in New York einen Wolkenkratzer ganz aus Eisen
beton ausgeführt. In Amerika ist diese Bauweise schon
längt zur Anwendung gelangt, ohne aber sofort Nach
ahmungen zu finden. Es liegen Ausführungen vor, deren
Aushau im Jahre 1875 erfolgte. Es ist dies ein nennens
wertes Beispiel, daß ein Wohnhaus, bei welchem die
sog. Mouierdecken in richtiger Ausführung (das Eisen
liegt unten) zur Anwendung kamen, bevor Monier sein
Patent erhalten hatte (1878). Das ganz in Eisenbeton
ausgeführte Wohnhaus steht schon 30 Jahre und hat sich
gut bewährt. Erst in letzterer Zeit wurde der Eisenbeton
wieder aufgenommen.
In Deutschland ist diese Bauweise, wenn auch etwas
später und zögernd, bis sichere Grundlagen und wissen
schaftliche Untersuchungen Vorlagen, heute eingeführt,
und sind nennenswerte Beispiele solcher Ausführungen
zu verzeichnen. Zahlreiche in Stampfbeton und Eisen-