Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1906)

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BAUZEITUNG 
NR. 4 
zusammenzuklauben, die verzückt und lebhaft bewegten 
Heiligen mit ihrem manierierten Faltenwurf und Gesichts 
ausdruck herüberzunehmen? Welcher Stolz, wenn nun 
das Ganze glücklich fertig und vom alten kaum zu unter 
scheiden ist! Welcher Triumph, wenn gar ein Kenner 
einmal ahnungslos in eine solche Kirche tritt und den 
Anbau mitsamt seiner Dekoration für alt hält! Das 
Können der dabei beteiligten Künstler in vollen Ehren! 
Ich schätze ihre Arbeiten hoch, ich bewundere sie. Aber 
mich ergreift jedesmal Wehmut, wenn ich sehe, welch 
künstlerische Kraft da aufgewendet worden ist für ein 
Werk, dem kein höherer selbständiger Wert zukommen 
kann, weil es sich aus lauter Nachahmung und Nach 
empfindung zusammensetzt. AYas könnten diese Künstler 
leisten, wenn sie in unsrer eignen Sprache reden dürften! 
AVie ganz anders verfuhr man in ähnlichen Fällen in 
alter Zeit! AYie viele Kirchen gibt es, die im östlichen 
Teil Spätrenaissance- oder Barockstukkaturen zeigen, im 
Langhaus aber farbenfrohe Deckengemälde, umrahmt von 
flüssig aufgetragenem, lustig verschnörkeltem Rokokostuck! 
AVelch großer stilistischer Gegensatz zwischen dem De- 
korationssystem im Chor und Langhaus! Und doch, wer 
wollte sich heute noch über einen solchen Zwiepalt auf 
halten? AYir finden diesen Unterschied sogar anziehend, 
reizvoll, wir freuen uns, daß man im 17. und nochmals 
im 18. Jahrhundert mit voller Liebe.und Eigenart an 
dem Gotteshause gebaut, stuckiert und gemalt hat. Wir 
freuen uns darüber, wie es uns auch ganz traut anmutet, 
wenn wir sehen, daß selbst der im 17. Jahrhundert 
stuckierte Teil der Kirche damals nicht neu gebaut, 
sondern in Umfassungsmauern, Strebepfeilern und Ge 
wölbe aus der Gotik beibehalten wurde. 
AYir nehmen die Stildissonanzen an alten Bauten ruhig 
hin, weil sie — alt sind. Der Kunst der Gegenwart 
aber gönnen wir es nicht, mit ihrer Eigenart neben und 
in das Alte zu treten. Soll eine alte, die verschiedensten 
Stile in sich vereinigende Kirche heute restauriert werden, 
so verlangen wir die möglichste Erhaltung des jetzigen 
Zustandes trotz der Mannigfaltigkeit des Stiles an den 
Bauteilen, in der Dekoration und in der Einrichtung, 
und dies mit vollstem Recht; denn eine Wanderung durch 
ein solches Gotteshaus ist ein Gang durch die Jahr 
hunderte menschlichen Höffens und Sehnens, ein Gang, 
der Zeugnis gibt von dem Glauben und Gottvertrauen, 
von dem künstlerischen Sinnen und Trachten unsrer Vor 
eltern, ein Gang, der unsre eigne frohe Zuversicht stärkt 
und kräftigt. AYas für die Restaurationen, Erweiterungen, 
Neuanschaffungen früherer Jahrhunderte recht ist, sollte 
das nicht auch für unsre Neuschöpfungen in und an alten 
Bauten billig sein? Sollten wir nicht den neuen Anbau 
an einer altstuckierten Kirche in Stuck und Malerei in 
abweichender Art verzieren dürfen? Sollten unsre Re 
stauratoren bei Erweiterungsbauten und neuen Zutaten 
nicht endlich einmal wieder Künstler, nichts als Künstler 
sein dürfen? Sollten sie nicht wagen dürfen, die ihnen 
meist so schlecht sitzende Zwangsjacke der stilgeschicht 
lichen Treue an den Nagel zu hängen? Sollten sich 
unter unsern zahlreichen, schaffensfreudigen Architekten, 
Bildhauern und Malern keine Kräfte finden, die solchen 
Aufgaben gewachsen sind? O, da ist man schnell mit 
der Antwort zur Hand: nein, sie finden sich nicht. 
Freilich, sie finden sich nicht oder nicht schnell genug, 
weil man solche Aufgaben nicht oder zu selten stellt, 
weil mah vielleicht aus der einen oder andern nicht 
günstig ausgefallenen Probe den Schluß zieht: es ist nicht 
möglich, in neuer Art neben der alten zu schaffen. Ja, 
sie finden sich nicht ein zur Mitarbeit, weil man sie nicht 
zuläßt, weil bekannt ist, daß Projekte, die nicht den 
stilistischen Anschluß an das Alte suchen, keinerlei Aus 
sicht auf Genehmigung haben. Wir müssen bedenken, 
daß Neues nicht über Nacht erfunden wird, daß das 
Neue Zeit und Gelegenheit braucht, sich aus dem Alten 
zu entwickeln. Unsre Aufgabe ist es, diese Gelegenheit 
zu geben und den Boden für weitere Entwicklung zu 
lockern. Auch hier ist das Angebot von der Nachfrage 
abhängig. (Schluss folgt) 
RECHTE DES GRUND- UND GEBÄUDE 
EIGENTÜMERS AM LUFTRAUM 
Zu dem von uns in Nr. 43 der „Bauzeitung“ von 1904 
S. 310 besprochenen Fall, in dem durch Urteil des Ober 
landesgerichts Hamburg einer Elektrizitätsgesellschaft die 
Beseitigung der auf einem Hotelgebäude angebrachten 
Lichtkabel aufgegeben wurde, ist nunmehr eine Ent 
scheidung des Reichsgerichts ergangen (Urteil vom 
29. Oktober 1904. Entsch. in Zivilsachen Bd. 59 
S. 117). Das Reichsgericht bat das Urteil des Ober 
landesgerichts bestätigt. In den Urteilsgründen wird 
ausgeführt: Bei der Beratung über § 905 des B. G. B. 
sei auf die Schwierigkeiten hingewiesen worden, die 
durch eine rücksichtslose Ausbeutung des dem Eigen 
tümer an sich zustehenden Yerbietungsrechts gegen 
fremde Einwirkungen für die Entwicklung gewerblicher 
Interessen entstehen können. AVenn zur Lösung solcher 
Konflikte eine besondere gesetzliche Bestimmung für 
nötig erachtet worden sei, so zeige das zwar, daß hierzu 
die allgemeine Bestimmung in § 226 B. G. B. nicht für 
ausreichend gehalten worden sei, durch welche die Aus 
übung eines Rechts für unzulässig erklärt wird, die nur 
den Zweck haben kann, einem andern Schaden zuzufügen. 
Anderseits ergebe sich aber aus der Fassung des Satzes 2 
in § 905 unmittelbar, daß die Scheidelinie zwischen dem 
abstrakten Rechte des Grundeigentümers und der Be 
fugnisse andrer zu Eingriffen nicht durch das Interesse 
dieser andern, sondern durch das des Grundeigentümers 
bestimmt werdön soll. Daraus folge aber, daß dabei 
jedes Interesse des Grundeigentümers zu berücksichtigen 
sei, das sich als solches erkennen lasse. Daß das auch 
Neubau des AVarenhauses Tietz in Stuttgart. Eingang Ecke 
Schul- und Sohmalestraße. Architekten Bihl & Woltz-Stuttgart
	        

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