17. November 1906
BAUZEITUNG
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schroffen Gegensatz zur Altstadt, in welcher die Straßen
bahn sich oft kaum eingleisig durch die Engpässe zwingen
kann, so zum Beispiel in der äußeren Laufertorgasse, deren
Querschnitt vorstehend abgehildet ist. Bei 7,20 m Ge-
samthreite mißt die Fahrbahn noch 4,75 m zwischen den
Randsteinen. Ein Straßenbahnwagen und ein Möbelwagen
finden auf ihr Platz, und selbst auf den schmaleren, nur
1,05 m breiten Gehwegen können noch zwei verträgliche,
nicht gar zu breitspurige Menschen aneinander vorüber
kommen.
Y. Angrenzerbeiträge zum Straßenbau in Nürn
berg. Baulinienfeststellung.
AVie fast allerorts, so haben sich auch in Nürnberg
die Angrenzer an den Kosten der Straßenneubauten zu
beteiligen und außerdem auch die Straßenfläche unent
geltlich abzutreten.
Für die Beitragsberechnung kommen folgende Einheits
sätze in Anwendung: 1 m Randstein samt Anpflasterung
14 M. 50 Pf., Chaussierung 3 M. 60 Pf. per Quadratmeter,
Granitpflaster 13 M. per Quadratmeter, Erdarbeiten
Pauschsumme mit 15 °/ 0 des Betrags aus der Straßen
befestigung. Bauleitung und Bauaufsicht 5 °/ 0 der Ge
samtsumme für Bauarbeiten.
Unter Zugrundelegung dieser Einheitspreise ergaben
sich bei 80 m Baublocklänge für den laufenden Meter
Bauplatz bei 12 m Straßenbreite 38 M., bei 16 m Breite
45 M. und bei 22 m Breite 55 M. Anliegerkosten. Bei
noch breiteren Straßen, deren Breite vorwiegend auch
dem Durchgangsverkehr dient, trägt die Stadt die Mehr
kosten über 22 m Breite. An Plätzen werden 14 m
Straßenbreite für die Anliegerkosten zugrunde gelegt.
Die verwaltungsrechtliche Behandlung der Baugesuche
sowie der Entwürfe und Anträge über Festsetzung neuer
oder Abänderung bestehender Baulinien und Höhenlagen
ist einem „rechtskundigen“ Mitglied des Magistrates als
Referenten zugewiesen. Die „bautechnische Begutachtung“
erfolgt schriftlich durch die besondere Abteilung des
städtischen Bauamtes für Baupolizei.
Die Entwürfe für Bauliniensachen werden dagegen
von einer andern Abteilung des städtischen Bauamtes,
der Abteilung für Stadterweiterung, aufgestellt und von
dem „Baupolizeireferenten“ im Magistrat, nicht im Polizei
senat, zum Vortrag gebracht. — Eine meines Erachtens
für die städtischen Techniker nicht ganz befriedigende
Anordnung, sie stehen in zweiter Linie. —
In Baulinien und Höhenlagesachen steht dem Magistrat
nur das Recht der Antragstellung zu; die Entscheidung
liegt bei den Regierungsbehörden.
Eine besondere Bauordnung für Nürnberg, d. h. ein
Ortsbaustatut, gibt es nicht, aber vereinzelte orts
polizeiliche Vorschriften, so zum Beispiel zum Schutz des
Stadtbildes u. s. w. (Schluß folgt.)
Karlsruher Wolmhauskunst
Yon Prof. Karl Wi dm er-Karlsruhe.
Der epochemachende Aufschwung, den die Karlsruher
Baukunst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ge
nommen hat, knüpft sich vor allem an die Privatbau
tätigkeit. Es ist überraschend, wie leicht und schnell
die neue Bewegung in den Kreisen bürgerlicher Bau
herren Verständnis gefunden hat. Geschäftshäuser in der
innern Stadt, vor allem aber Villen und AYohnhäuser in
den neueren Straßen der Weststadt sind bis heute die
wichtigsten Zeugen dieses Aufschwungs. Die erste Bresche
in die Herrschaft des Palazzostils und der üniversal-
fassade legte Oberbaurat Karl Schäfer mit seinem alt
katholischen Pfarrhaus (Ende der achtziger Jahre). Er
selbst steht damit zwar auf dem streng historischen
Standpunkt exakter Stilrekonstruktion (fränkischer Fach
werkstil). Indem er aber wieder einmal auf einen echten
Typus des nationalen Bürgerhauses hinwies, ebnete er einer
Reihe jüngerer Architekten den Boden, die sich von der
Schablone der italienischen Renaissance mit aller Ent
schiedenheit der gruppierenden Bauweise unsrer
nationalen Stile zuwandten und diese in einem freieren,
moderneren Geiste behandelten. Es sind vor allem
Hermann Billing und Curjel & Moser, welche
ganzen Straßen in den neuen Stadtteilen das Gepräge eines
frischen und originellen künstlerischen Geistes aufprägten
(Eisenlohrstraße, Riefstahlstraße, Baischstraße u. s. w.).
Inzwischen hat die Bewegung immer weitere Kreise ge
zogen. Zwar kommen die großen Ueberraschungen, welche
diese ersten „modernen“ AYohnhäuser gebracht haben, be
greiflicherweise nicht jeden Tag wieder. AYas aber
wichtiger ist: die künstlerische Reform, die von ihnen
ausgegangen ist, hat festen Boden gefaßt. Neben den
Genannten hat namentlich Friedrich Ratzel auch
im Privatbau eine einflußreiche Tätigkeit entfaltet; in
seinen AYohnhäusern ist Ratzel nicht so exklusiv
historisch wie in seinen öffentlichen Bauten, die einen
zum Teil wie echte AYerke der Barockzeit anmuten.
Auch Hermann Sexauer lehnt sich in seinen besten
AVerken an schlichte Barockformen an. Und unter
dem Nachwuchs bewährt sich schon hei manchem die
Billing-Schule, Moser-Schule u. s. w., aus der er hervor
gegangen ist. So sind u. a. Pfeifer und Großmann viel
versprechende Talente. AYenn im übrigen auch nicht
alles einwandfrei ist, vieles auch den Stempel unver
standener Nachahmung trägt — im ganzen geht es
doch voran. Man vergleiche nur das Niveau dessen, was
an tüchtiger moderner Baukunst in den letzten zehn
Jahren in Karlsruhe alles entstanden ist, mit dem, was
in den siebziger und achtziger Jahren die Hochflut der
Renaissancemode an öffentlicher und privater Architektur
gebracht hat. Auch ist innerhalb der neueren Be
wegung selbst seitdem eine gewisse Abklärung und
Beruhigung der künstlerischen Anschauungen eingetreten.
Anfangs mag die Freude an der malerischen AVirkung
der unregelmäßigen, gruppierenden Bauweise vielfach
dazu verführt haben, das Gruppieren um des Malerischen
willen zu übertreiben, überhaupt auf die künstlerisch
aparte und auffallende Erscheinung des Hauses einen
etwas starken Nachdruck zu legen (auch farbig!). Eine
gewisse Rolle spielten auch die für ein städtisches AYohn-
haus doch überflüssigen (freilich vom Bauherrn oft ver
langten) Ecktürme; damit war man in den Burgenstil
hineingeraten. Jetzt aber hat sich die Bewegung von
diesen Aeußerlichkeiten mehr und mehr freigemacht. Der
Einfluß des Empire- und Biedermeierhauses, das den
historischen Typus der älteren Karlsruher Wohnhaus-
architektur bestimmt, und der aus dem 18. Jahrhundert
erhaltenen schlichten Louis-seize-Architektur war dabei
nicht ohne Wirkung. Die neueren Wohnhäuser werden
immer einfacher, ruhiger, sachlicher. Der Charakter des
modernen Bürgerhauses drückt sich darin natürlicher aus
als in der starken Betonung malerischer Absichten. Billing
hat sich neuerdings übrigens auch mit dem klassischen
Prinzip der Renaissance wieder befreundet, namentlich
bei eingebauten Etagenhäusern. Auch scheut er sich
nicht, gelegentlich einmal die Passade eines AYohnhauses
monumental zu behandeln, wenn es ihm durch die Größe
des Baues und den architektonischen Charakter seiner
Umgebung motiviert erscheint (Eingang zur Baischstraße).
Sind die Grenzen des Monumentalen überhaupt flüssig
— wo fängt der Palast an und hört das Bürgerhaus
auf? —, so ist natürlich in einer großen städtischen Haupt
straße oder an einem öffentlichen Platz ein gewisser Grad
der Monumentalität auch beim AYohnhaus nicht nur be
rechtigt, sondern sogar geboten. Die Kunst kennt eben
kein absolutes Schema.