FÜR WÜRTTEMBERG
BADEN HESSEN
SASS-LOTHRING
STUTTGART, 3. FEBRUAR 1906
ALLE RECHTE VORBEHALTEN. — INHALT: DENKMALPFLEGE UND MODERNE KUNST.-
DRITTE DEUTSCHE KÜNSTGEWERBE-AUSSTELLUNG DRESDEN 1906. — EIN NEUES ORTSBAUSTATÜT. - VEREINS-
MITTEILUNGEN. - WETTBEWERBE. - KLEINE MITTEILUNGEN. - BAUTECHNISCHE RUNDSCHAU. - PERSONALIEN.
•ÜAUSTHlHh
INITIALE VON P. HAUSTEIN
ENKMALPFLEGE UND
MODERNE KUNST. VON
DR. G. HAGER (FORTSETZUNG)
Ich fahre in der Veranschaulichung mit
Beispielen fort! In einer ehemaligen
Klosterkirche, einer romanischen drei-
schiffigen Basilika, deren Inneres im
18. Jahrhundert im heiteren Rokoko-
aus „kunst und kultur“ stuckiert und ausgemalt worden ist,
verlad diederichs-jena stehen Barock- und ivokOKoaitare mit
guten und schlechten Altarhlättern. Die guten Altarhlätter
sollen gereinigt und aufgefrischt, die schlechten und kunst
losen durch neue ersetzt werden. Welch schöne Aufgabe
für unsre Maler! Man sollte glauben, man verlange ledig
lich künstlerisch ausgeführte, dem religiösen Empfinden
entsprechende Gemälde, geschaffen in der individuellen
Sprache unsrer Zeit. Aber nein, man erhebt die Forde
rung, daß der moderne Maler sich dem Rahmen des neu
herzustellenden Werkes, nämlich dem Barock- oder
Rokokoaufbau des Altares stilistisch anpasse, daß er in
Barock- oder Rokokomanier male. Man verweist wieder
auf alte Vorbilder, alte Kupferstiche. Ja, man rät viel
leicht sogar, ein altes Altarblatt einer andern Kirche
oder einer Sammlung direkt zu kopieren. Welcher Mangel
an künstlerischer Einsicht! Und solche Forderung er
heben dieselben Herren, die nicht absprechend genug
über die auf Stileinheit hinzielenden Restaurationen des
19. Jahrhunderts urteilen können. Sie merken nicht, daß
sie den Fehler, den sie andern vorwerfen, selbst machen.
Die Lösung der Aufgabe im Sinne einer wahren christ
lichen Kunst ist doch so einfach. Der Maler der neuen
Altarblätter soll, wie man das auch in früheren Jahr
hunderten womöglich getan hat, in der Größe der Figuren,
in der Komposition, in der Untersicht den Raumverhält
nissen vor dem Altäre und im Kolorit den Beleuchtungs
verhältnissen Rechnung tragen. Im übrigen aber lasse
man ihm freie Hand, ein Gemälde zu schaffen, das vom
Herzen kommt und zum Herzen spricht. Wer noch
zweifelt, daß der empfohlene Weg der richtige ist, den
verweise ich wiederum auf die alten Kirchen selbst.
Wie oft trifft es sich, daß in einem Altarbaue des späteren
17. oder des 18. Jahrhunderts ein Altargemälde etwa aus
der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts oder gar aus noch
älterer Zeit beibehalten wurde! Die zeichnerischen und
koloristischen Prinzipien dieses Altarblattes weichen voll
ständig ab von jenen, die zur Zeit, da man den späteren
Altaraufbau her stellte, üblich waren. Wir finden diese
Stildissonanz ganz und gar nicht unhaltbar, wir bewundern
das Gemälde und wir bewundern seinen architektonischen
Rahmen, Wir entziffern die Sprache der beiden hier
nebeneinander und ineinander vereinten Stilperioden, wir
wägen ab, wir vergleichen, wir lassen den Geist dieser
stummen und doch so beredten Werke lebendig werden,
und wir gehen hinweg mit dem Bewußtsein, einen er
hebenden Eindruck empfangen zu haben. Seien wir doch
offen und gestehen wir’s: der Reiz des Alten hat’s uns
da angetan! Doch, ich will nicht ungerecht sein; noch
eins wirkt mit, vielen freilich oft nicht bewußt, das ist
der künstlerische Wert der beiden unter sich so ver
schiedenen Werke. Der künstlerische innere Gehalt ist
es wieder, der das einigende Band um die ihrer Ent
stehung nach vielleicht anderthalbhundert Jahre und mehr
auseinander liegenden, stilistisch voneinander so abwei
chenden Denkmäler schlingt. Und die Nutzanwendung?
Immer und immer wieder werden wir zur Forderung
geführt: auf die Kunst, nicht auf den Stil kommt es an.
Kunstwerke wollen wir in den alten Kirchen stiften,
Werke, echt, wahr und warm empfunden aus dem Geiste
unsrer Zeit, AVerke, die religiös stimmen und erhebend
wirken, Werke, möglichst frei von der Nachahmung der
zeichnerischen oder koloristischen Manier der oder jener
alten Periode, Werke ohne aufdringliche Altertümelei
— Kunstwerke, nicht Siilübungen. Den Einwand, daß
ja eben die retrospektive Kunstrichtung dem Geist unsrer
Zeit entspreche, kann ich nicht oder vielmehr nicht mehr
gelten lassen. Die führenden Künstler, vor allem in der
Malerei, aber auch in den andern Gebieten, gehen bereits
andre Wege.
Und das gleiche wie für die Malerei gilt für die Skulptur.
Warum sollen zum Beispiel für eine alte gotische Kirche
oder auch selbst für einen alten gotischen Altarschrein
nur gotisierende neue Figuren geschaffen werden dürfen?
Ich meine, wir sollten die Aufgabe anders stellen; wir
sollten nicht Figuren verlangen, welche mehr oder minder
irgendeiner gotischen Stilperiode sich anschließen, sondern
vielmehr lediglich Figuren, die Kunstwert haben und sich
dem gegebenen Raume anpassen. Haben die neuen AVerke
Kunstwert, so werden sie sich neben und in dem Alten
behaupten, so gut wie zum Beispiel gotische Holzfiguren
an Renaissance- oder Barockaltären oft genug den Kenner
erfreuen und entzücken.
Gerade für die Malerei und Plastik, die individuellsten
der bildenden Künste, ist das uns beschäftigende Problem
von größter, von ernstester Tragweite. Die Sache wird
für die kirchliche Malerei und Plastik der Gegenwart
geradezu eine Lebensfrage. Die Nachahmung bleibt immer
mehr oder minder am Aeußerlichen haften. Wohl gibt
es einige wenige Künstler, welche sich ganz in die Manier
eines bestimmten alten Stiles eingelebt haben und ihre
AVerke zu beseelen verstehen. Aber was bedeutet diese
verschwindend kleine Zahl gegenüber den zahllosen Auf-