10. August 1907
BAUZEITÜNG
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des sächsischen Wohnhauses, kann sehen, welchen außer
ordentlichen Einfluß die Bauordnungen auf die stilistische
Entwicklung der künstlerischen Seite der Bauart gehabt
haben. Dieser indirekte ästhetische Einfluß ist vorher
kaum zu berechnen, er zeigt sich erst allmählich. Des
halb dürfte es nötig sein, ihn genau im Auge zu be
halten, die Erfahrungen, welche sich nach dieser Seite
praktisch ergeben, zu sammeln und auch für diese ästhe
tische Wirkung der Bauordnung sachverständige Rapporte
von außenstehenden Beobachtern einzufordern. Dann wird
das komplizierte Gebilde der Bauordnung allmählich so
vervollkommnet werden, daß Gesundheits-, Sicherheits
und Schönheitsbedingungen ein und dasselbe bedeuten.
Dies Ziel ist zu erreichen. Es liegt in derselben Rich
tung, in der alle lebendigen, neuzeitlichen, künstlerischen
Bestrebungen liegen: in der Verbindung vom Praktischen
und Schönen. (Fortsetzung folgt)
Bauplan für die Umgebung des neuen
Hauptbalmhofs Stuttgart
Nach dem nunmehr festgestellten Plan wird vom
Empfangsgebäude ausgehend etwa durch die Mitte des
Gesamtareals eine Längsstraße geführt, die in die innere
Schloßstraße mündet und dann zur Eriedrichstraße ge
leitet wird. Diese neue Hauptverkehrsader ist bestimmt,
den Westen der Stadt mit dem Bahnhof zu verknüpfen.
Der Süden wird durch die Königstraße versorgt, der
Osten durch die Verlängerung der Schillerstraße über
die Anlagen hinweg, und der Norden ist mit der durch
zuführenden Bahnhofstraße angeschlossen. Die Breite
der neuen Straße, die eine leichte Biegung und eine
staffelförmige Ausbildung der konkaven Straßenwand er
hält, beträgt im Mindestmaß 23 m. Die Kronenstraße
wird beibehalten; gleichlaufend zu ihr werden zwei kurze
Querstraßen eingeführt, die den Zweck haben, das Bau
land günstig aufzuteilen. Für die Form des Bahnhof
vorplatzes war der Grundriß des Empfangsgehäudes maß
gebend. Die Haupteingangshalle wird nicht in der
Mittelachse des ganzen Bahnhofs gebaut, sondern etwas
nach Südosten verschoben. Der Eingang liegt also gleich
günstig zur Königstraße wie zur neuen Hauptstraße;
beiden Straßenmündungen sind daher Platzerweiterungen
angegliedert. So ist der Vorplatz eine Gruppe von
Plätzen geworden, von denen jeder in Rücksicht auf den
Verkehr seine besondere Aufgabe zu übernehmen hat;
eine allzu starke Zentralisation des Straßenverkehrs un
mittelbar vor der Eingangshalle des Bahnhofs wird da
durch vermieden. Was den Straßenbahnverkehr betrifft,
so ist geplant, die auf dem Schloßplatz zusammenlaufenden
Linien auf den Bahnhofvorplatz zu verlegen. Neu hinzu
kommen würde die Vorortbahn Stuttgart—Ludwigsburg.
Die untere Königstraße wird vom Brauerschen Haus
an abwärts bis zu dem neuen Bahnhofvorplatz an der
Schillerstraße durch Zurückrücken der westlichen Bau
linie um 2,6 m erbreitert, so daß eine Straßenhreite von
22,6 m und nach der für später in Aussicht genommenen
Erbreiterung an der Ostseite eine solche von 25 m ent
steht. Zwischen der neuen Hauptstraße und der Friedrich
straße wird die nördliche Baulinie der Schloßstraße um
8—10 m von der jetzigen Straßenlinie zurückgezogen,
so daß sich eine platzartige Erweiterung bildet. Die
Breite der neuen Hauptstraße zwischen Schloß- und
Schillerstraße wechselt zwischen 23 m und 30 m. Zwischen
der Schillerstraße und der südlich von dieser gelegenen
Querstraße ist die Hauptstraße zu einem Platz von 42 m
Breite erweitert. Die Südseite der Schillerstraße zwischen
dem Königstor und der Alleenstraße wird aufgehoben
und die Straße zu einem Bahnhofvorplatz erbreitert, der
auf der Strecke zwischen König- und Hauptstraße mind estens
55 m, auf der Strecke zwischen Haupt- und Alleenstraße
mindestens 45 m breit ist. In den Baublock zwischen
Kronen- und Schillerstraße einerseits und zwischen Haupt
straße und Alleenstraße anderseits wird eine neue Quer
straße von 16 m Breite eingelegt. Die Marstallstraße
wird zwischen den Gebäuden Nr. 12 und 14 der König
straße (Kunstgewerheschule und Pension Bareiß) bis zu
der neuen Hauptstraße mit 16 m Breite durchgeführt.
Baugewerksclmle und Prüfungsfrage
Aus Baubeamtenkreisen wird uns geschrieben;
Bei den Verhandlungen der Ersten Kammer über die
Baugewerkschule (Kap. 71) wurde auch wieder die Frage
erörtert, ob für die Zulassung zu den Prüfungen der
Baugewerkschule die Berechtigung zum Einjährig-
Freiwilligen-Dienst gefordert werden solle. Bericht
erstatter Präsident v. Buhl führte dabei an, daß der
Kultminister im andern Häus ausgesprochen habe, er
halte es für kein Glück, wenn ein Beruf nach dem andern
sich gegen den Zuzug von unten wie durch eine chinesische
Mauer abzuschließen suche. Präsident v. Sandberger
meinte, es wäre für die Volksschule ein wahres Ver
hängnis, wenn man ihren Schülern jedes weitere Fort
kommen dadurch erschweren würde, daß man ihr Zu-
strehen nach einem höheren Beruf immer von diesem
Einjährigenexamen abhängig macht. Staatsminister des
Kirchen- und Schulwesens v. Fleischhauer erwähnte
folgendes; „Eine Neuordnung der Bauwerkmeisterprüfung
ist vor nicht langer Zeit ergangen. Was aber die Zu
lassung zu der Baugewerkschule betrifft, so bin ich auch
der Meinung, daß es nicht im Interesse der Volksschule
liegt, den Volksschülern den Zugang zu allen höheren
Berufsarten dadurch zu verschließen, daß man als Er
fordernis hierfür die Einjährigenberechtigung aufstellt.“
Dekan Müller erklärt, er könne sich den Ausführungen
des Präsidenten v. Sandberger von dem Standpunkt des
katholischen Volksschulwesens nur anschließen. Wenn
hei andern Berufen hier zu weit gegangen worden sei,
so sollte man in dieser Sache sich eher rückwärts kon
zentrieren, als noch weiter gehen in einem Fehler, den
man gemacht hat.
Nun, auf diesen Standpunkt stellen sich auch die Bau
techniker. Wir sind ganz damit einverstanden, wenn
die Bedingung des Einjährigenexamens bei
den sämtlichen Berufen im mittleren Post-
und Telegraphendienst sowie bei den Notariats-,
Finanz- und Verwaltungsbeamten aufgehoben
wird. Dann ist ja die von uns verlangte Gleichstellung
mit einem Schlage fertig. Dann und aber auch nur dann
ist es einem Volksschüler möglich, auch in einem dieser
Berufe noch anzukommen, was doch offenbar von all
denen gewünscht wird, die gegen die Bevorzugung durch
das Einjährigenexamen sind.
Denn es ist doch nicht anzunehmen, daß alle, die
jetzt das Einjährigenexamen nicht gemacht haben und
doch höher streben und denen also zurzeit nur noch die
Baugewerkschule offen ist, auch geborene Techniker sind!
Mancher würde sich sehr gern irgendeinem andern Zweig
des Verwaltungsfaches widmen, aber dort ist er vollständig
ausgeschlossen! Wollen also die Herren, welche aner
kennen, daß auch in manchem Volksschüler noch ein
gesunder Kern steckt, der später für höhere Zwecke sich
entwickeln kann, dem auf helfen, dann muß auch Gelegen
heit gegeben werden, daß dieselben nicht bloß ins Bau
fach, sondern auch in einen andern öffentlichen Beruf
eintreten können. Dies ist aber nur möglich, wenn die
chinesische Mauer, welche diese erwähnten Berufe
mit Hilfe des Staats aufgerichtet haben, auch wieder
entfernt wird. J. M.