17. August 1907
BAUZEITUNG
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geist, der gerade aus dem Praktischen das Aesthetische
zu entwickeln versucht; wenn sie sich finden, kann der
Segen für die Kultur einer Stadt unermeßlich werden.
Wir haben anzudeuten versucht, daß in den archi
tektonischen Aufgaben der Stadt die große Erweiterung
und Erschwerung früheren Zeiten gegenüber vor allem
darin besteht, daß neben die repräsentativen Aufgaben
die große Fülle von Zweckbauten tritt, deren künst
lerischer Charakter erst erobert werden will. Betrachten
wir rückschauend von diesem Gesichtspunkte aus die
jenigen Bauten, die ihrem Programm nach repräsentativen
Charakter tragen, so können wir sehen, daß auch bei
ihnen die neuzeitlichen Umwandlungen des Programms
nach der Richtung hin liegen, daß sie zum großen Teil
einfache Zweckbauten geworden sind und nun ihr repräsen
tativer und ihr geschäftlicher Teil in einen gewissen Wider
spruch geraten.
Das ist in besonders deutlicher Weise im modernen
Rathause der Fall. Es ist keine Frage, daß unter allen
Bauaufgahen das Rathaus ganz besonders dazu auffordert,
den alten historischen Stil, der für die Glanzzeit einer
Stadt maßgebend geworden ist und ihr einen bestimmten
Charakter gibt, wieder aufieben zu lassen. Der Begriff
mancher Stadt ist für uns untrennbar mit einem be
stimmten Stilbegriffe verknüpft, und zumal da Rathäuser
meist im Kernpunkte des historischen Stadtbildes liegen,
ist hier ganz besonders das Bedürfnis begreiflich, Tradi
tionen zu pflegen. Wer die große Uebersicht über das
neue deutsche Rathaus, welche die Ausstellung bot,
daraufhin betrachtet, kann dieses Bestreben deutlich
wahrnehmen, und überall, wo man die Empfindung eines
solchen Zusammenhanges mit dem lokalen Kunstcharakter
der Stadt bekam, schien der Leistung von vornherein eine
gewisse Wärme innezuwohnen, während man unwillkür
lich stutzt, wenn man beispielsweise „München“ liest und
dann ein echt gotisches Bauwerk als Stadtrepräsentanten
erblickt.
■! Es fällt innerhalb dieses historischen Programms noch
etwas andres auf: je kleiner das Rathaus ist, um so rest
loser gelingt dieses Erfassen eines historischen Geistes.
Die kleinen Rathausbauten unsrer Zeit stellen im Prinzip
ungefähr dieselben Forderungen wie die größeren Rat
häuser früherer Zeiten, und deshalb kann ein geschmack
voller Künstler hier verhältnismäßig zwanglos die Sprache
der Vergangenheit sprechen. Bei den mittelgroßen Rat
häusern ist das schon gefährlicher. Wer die deutschen
Konkurrenzen der letzten Jahrzehnte beobachtet hat, der
kennt sehr genau einen der Renaissance entlehnten neu
deutschen Rathausstil, der auf dem Papier in unzähligen
Leistungen geblüht hat und aus einem eignen Geschick
im malerischen Gruppieren von Türmen, Giebeln, Erkern
und Loggien besteht. Dieser Stil gibt hübsche Archi
tekturbilder, aber in der wirklichen Ausführung wirkt er
trotz allem Geschick nur zu oft äußerlich und theater
haft. Um die wachsenden Massen zu gliedern, wird der
Architekt herausgefordert zu interessanten Gruppierungen,
die leicht allzu interessant werden. Und nicht zum
wenigsten scheint der Grund der Unnatur darin zu liegen,
daß historische Formen gebraucht werden zu Aufgaben,
deren Maßstab über die Sphäre des betreffenden Stiles
hinausgeht. Daß jedem historischen Stile ein bestimmter
Maßstab innewohnt, über den hinaus die Natürlichkeit
seines Ausdruckes versagt, das ist eine Erkenntnis, gegen
die besonders oft gefehlt wird. Dieser Maßstab ist bei
den verschiedenen Stilen verschieden. Er ist zum Bei
spiel beim deutschen Barock viel größer als bei der
deutschen Renaissance, so daß innerhalb der historischen
Stilhetätigung ein Wachsen der Baumasse, die es zu
bewältigen galt, aus natürlichem ästhetischem Gefühl von
der Sphäre deutscher Renaissance zur Sphäre deutschen
Barocks führen mußte. Wir können das in München
deutlich beobachten.
Diese Schwierigkeit des Maßstabes macht sich nun
bei den ganz großen Rathäusern natürlich am stärksten
geltend. Immer mehr versagt das Mittel, durch Gruppie
rung die Flächen derart aufzuteilen, daß man sie mit den
relativ kleinen Formen deutscher Giebelbauten beherrschen
kann. Um die weitverzweigten Gebäudemassen als Ganzes
zusammenzuhalten, muß man zum Kunstgriff unverhältnis
mäßig großer Türme oder gar Kuppeln greifen. Kurz,
diese Bauten wachsen über das Maß hinaus, das im all
gemeinen den historischen Formen deutscher Baukunst
innewohnt, und zwingen deshalb schon rein äußerlich in
freiere künstlerische Bahnen.
Aber auch innerlich tun sie das. Wer das Bau
programm eines großen deutschen Rathauses betrachtet,
erkennt sofort, daß vier Fünftel des Gebäudes bestehen
sollen aus einem System gleichartiger kleiner Bureauräume;
ein Fünftel etwa dient wirklich repräsentativen Zwecken.
Trotzdem soll das ganze Gebäude meist ringsum wie ein
Palast aussehen. Das führt unausbleiblich ■ zur Unnatur
und zur Zersplitterung aller Wirkung. Dieser Gefahr
dürfte man meist erst dann wirksam entgegentreten können,
wenn die Bauplätze der Rathäuser so gewählt werden,
daß durch ihre Lage nicht alle Passaden gleichmäßig ins
Feld geführt werden, sondern der ganze repräsentative
Teil an einer Stelle zur größtmöglichen Monumentalität
gesteigert, den Entscheidungsschlag führt, während der
Bureauteil des Gebäudes, in untergeordnetere Straßen
eingreifend, sich in einfacher Sachlichkeit an den Haupt
bau anschließen kann. In ähnlicher Weise werden alle
die Bauten, die einen ausgedehnten Yerwaltungsapparat
oder große Magazinräume neben ihrer repräsentativen
Seite nötig haben, einer glücklichen Lösung zur Hälfte
entgegengeführt werden müssen schon durch ihre Platzwahl.
Das Rathaus ist naturgemäß diejenige Aufgabe, in