Full text: Bauzeitung für Württemberg, Baden, Hessen, Elsaß-Lothringen (1907)

17. August 1907 
BAUZEITUNG 
259 
geist, der gerade aus dem Praktischen das Aesthetische 
zu entwickeln versucht; wenn sie sich finden, kann der 
Segen für die Kultur einer Stadt unermeßlich werden. 
Wir haben anzudeuten versucht, daß in den archi 
tektonischen Aufgaben der Stadt die große Erweiterung 
und Erschwerung früheren Zeiten gegenüber vor allem 
darin besteht, daß neben die repräsentativen Aufgaben 
die große Fülle von Zweckbauten tritt, deren künst 
lerischer Charakter erst erobert werden will. Betrachten 
wir rückschauend von diesem Gesichtspunkte aus die 
jenigen Bauten, die ihrem Programm nach repräsentativen 
Charakter tragen, so können wir sehen, daß auch bei 
ihnen die neuzeitlichen Umwandlungen des Programms 
nach der Richtung hin liegen, daß sie zum großen Teil 
einfache Zweckbauten geworden sind und nun ihr repräsen 
tativer und ihr geschäftlicher Teil in einen gewissen Wider 
spruch geraten. 
Das ist in besonders deutlicher Weise im modernen 
Rathause der Fall. Es ist keine Frage, daß unter allen 
Bauaufgahen das Rathaus ganz besonders dazu auffordert, 
den alten historischen Stil, der für die Glanzzeit einer 
Stadt maßgebend geworden ist und ihr einen bestimmten 
Charakter gibt, wieder aufieben zu lassen. Der Begriff 
mancher Stadt ist für uns untrennbar mit einem be 
stimmten Stilbegriffe verknüpft, und zumal da Rathäuser 
meist im Kernpunkte des historischen Stadtbildes liegen, 
ist hier ganz besonders das Bedürfnis begreiflich, Tradi 
tionen zu pflegen. Wer die große Uebersicht über das 
neue deutsche Rathaus, welche die Ausstellung bot, 
daraufhin betrachtet, kann dieses Bestreben deutlich 
wahrnehmen, und überall, wo man die Empfindung eines 
solchen Zusammenhanges mit dem lokalen Kunstcharakter 
der Stadt bekam, schien der Leistung von vornherein eine 
gewisse Wärme innezuwohnen, während man unwillkür 
lich stutzt, wenn man beispielsweise „München“ liest und 
dann ein echt gotisches Bauwerk als Stadtrepräsentanten 
erblickt. 
■! Es fällt innerhalb dieses historischen Programms noch 
etwas andres auf: je kleiner das Rathaus ist, um so rest 
loser gelingt dieses Erfassen eines historischen Geistes. 
Die kleinen Rathausbauten unsrer Zeit stellen im Prinzip 
ungefähr dieselben Forderungen wie die größeren Rat 
häuser früherer Zeiten, und deshalb kann ein geschmack 
voller Künstler hier verhältnismäßig zwanglos die Sprache 
der Vergangenheit sprechen. Bei den mittelgroßen Rat 
häusern ist das schon gefährlicher. Wer die deutschen 
Konkurrenzen der letzten Jahrzehnte beobachtet hat, der 
kennt sehr genau einen der Renaissance entlehnten neu 
deutschen Rathausstil, der auf dem Papier in unzähligen 
Leistungen geblüht hat und aus einem eignen Geschick 
im malerischen Gruppieren von Türmen, Giebeln, Erkern 
und Loggien besteht. Dieser Stil gibt hübsche Archi 
tekturbilder, aber in der wirklichen Ausführung wirkt er 
trotz allem Geschick nur zu oft äußerlich und theater 
haft. Um die wachsenden Massen zu gliedern, wird der 
Architekt herausgefordert zu interessanten Gruppierungen, 
die leicht allzu interessant werden. Und nicht zum 
wenigsten scheint der Grund der Unnatur darin zu liegen, 
daß historische Formen gebraucht werden zu Aufgaben, 
deren Maßstab über die Sphäre des betreffenden Stiles 
hinausgeht. Daß jedem historischen Stile ein bestimmter 
Maßstab innewohnt, über den hinaus die Natürlichkeit 
seines Ausdruckes versagt, das ist eine Erkenntnis, gegen 
die besonders oft gefehlt wird. Dieser Maßstab ist bei 
den verschiedenen Stilen verschieden. Er ist zum Bei 
spiel beim deutschen Barock viel größer als bei der 
deutschen Renaissance, so daß innerhalb der historischen 
Stilhetätigung ein Wachsen der Baumasse, die es zu 
bewältigen galt, aus natürlichem ästhetischem Gefühl von 
der Sphäre deutscher Renaissance zur Sphäre deutschen 
Barocks führen mußte. Wir können das in München 
deutlich beobachten. 
Diese Schwierigkeit des Maßstabes macht sich nun 
bei den ganz großen Rathäusern natürlich am stärksten 
geltend. Immer mehr versagt das Mittel, durch Gruppie 
rung die Flächen derart aufzuteilen, daß man sie mit den 
relativ kleinen Formen deutscher Giebelbauten beherrschen 
kann. Um die weitverzweigten Gebäudemassen als Ganzes 
zusammenzuhalten, muß man zum Kunstgriff unverhältnis 
mäßig großer Türme oder gar Kuppeln greifen. Kurz, 
diese Bauten wachsen über das Maß hinaus, das im all 
gemeinen den historischen Formen deutscher Baukunst 
innewohnt, und zwingen deshalb schon rein äußerlich in 
freiere künstlerische Bahnen. 
Aber auch innerlich tun sie das. Wer das Bau 
programm eines großen deutschen Rathauses betrachtet, 
erkennt sofort, daß vier Fünftel des Gebäudes bestehen 
sollen aus einem System gleichartiger kleiner Bureauräume; 
ein Fünftel etwa dient wirklich repräsentativen Zwecken. 
Trotzdem soll das ganze Gebäude meist ringsum wie ein 
Palast aussehen. Das führt unausbleiblich ■ zur Unnatur 
und zur Zersplitterung aller Wirkung. Dieser Gefahr 
dürfte man meist erst dann wirksam entgegentreten können, 
wenn die Bauplätze der Rathäuser so gewählt werden, 
daß durch ihre Lage nicht alle Passaden gleichmäßig ins 
Feld geführt werden, sondern der ganze repräsentative 
Teil an einer Stelle zur größtmöglichen Monumentalität 
gesteigert, den Entscheidungsschlag führt, während der 
Bureauteil des Gebäudes, in untergeordnetere Straßen 
eingreifend, sich in einfacher Sachlichkeit an den Haupt 
bau anschließen kann. In ähnlicher Weise werden alle 
die Bauten, die einen ausgedehnten Yerwaltungsapparat 
oder große Magazinräume neben ihrer repräsentativen 
Seite nötig haben, einer glücklichen Lösung zur Hälfte 
entgegengeführt werden müssen schon durch ihre Platzwahl. 
Das Rathaus ist naturgemäß diejenige Aufgabe, in
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.