14. September 1907
BAUZBITUNGr
293
Nidda und Merkel-Dalsheim durch verschiedene Archi
tekten bauen lassen. Die Häuser sollen Einfachheit
und Billigkeit mit künstlerischem Geschmack vereinigen.
Bauwerk und Inneneinrichtung sollen, frei von allem
Zierat und falschem Material, das Gepräge der Sach
lichkeit und Natürlichkeit tragen; jedes Einfamilien
haus soll mindestens drei Zimmer mit Küche ent
halten. Die Baukosten für das Einfamilienhaus sollen
— bei einem Preise von 1,60—3 M. für den Quadrat
meter des 200—300 qm großen Bauplatzes — höchstens
4000 M. und für das Zweifamilienhaus 7 200 M. betragen,
so daß sich die Gesamtkosten auf höchstens 4500 bis
8000 M. belaufen. Die Gesamtkosten der notwendigen
Möbel für die dreiräumige Wohnung sollen im Durch
schnitt 600 M. betragen (141—190 M. für die Küche,
171—216 M. für das Schlafzimmer, 200—260 M. für das
Wohnzimmer). Die sechs Häuser sollen vollständig ein
gerichtet und wohnlich hergerichtet sein und den prak
tischen Beweis dafür liefern, daß man auch dem un
bemittelten Manne ein hübsches Heim gediegen und billig
einrichten kann. Großer Wert soll auch auf die Vor
führung von gutem und billigem Wandschmuck gelegt
werden. Den Erbauern bzw. Architekten ist völlige Frei
heit in der Betätigung ihrer Ideen und ihrer Kunst ge
lassen. Die Hersteller der Möbel müssen sich schriftlich
verpflichten, zu den von ihnen zu bezeichnenden Preisen
jede in der Ausstellung etwa gemachte Bestellung aus
zuführen. Das Arheiterdörfchen soll den Architekten
und Handwerkern neue Anregung bieten und veredelnd
auf den Geschmack des Arbeiters wirken. Dr. W.
Neue Bauordnung Württembergs
I. Einleitendes;
Rastlos schreitet die Kultur. Es steigert sich der
Wert der Materie mit dem Zunehmen der Bevölkerungs
dichte, der einzelne Mensch wird höher geschätzt, seine
Bedürfnisse nehmen zu, alles strebt nach Verbesserung.
Wohl nirgends offenbart sich die Kultur besser als in
den menschlichen Wohnstätten, in den Arbeitsräumen und
in den Bauwerken, die dem öffentlichen Verkehr und der
öffentlichen Sicherheit dienen, kurzum in der gesamten
Technik. Es ist der Stall unsrer heutigen Haustiere
schon um ein gut Stück besser als die Wohnung unsrer
ältesten Vorfahren. Einen Teil der treibenden Kraft der
Kultur bildet der Egoismus, jener Teil, der stets das
Böse will und stets das Gute schafft. Und wie der Ur
quell aller Gesetze dem Egoismus entspringt, so bildet
dieser auch die Ursache, die Grundlinie der Baupolizei.
Es ergab sich die Notwendigkeit, daß Staat, Korpo
ration und Gemeinde dem Allgemeinwohl wegen dem
Bebauen unsers Planeten Schranken setzen. Es wurde
die blinde Gewalt der Naturgesetze erkannt und der
selben schon bei Friedenszeiten entgegengetreten. Dadurch
mußte dem Idealismus ein kostbares Menschengut ge
opfert werden: die Freiheit. „Hier ist gut sein, hier
laßt uns Hütten bauen“, dieser Standpunkt ist vorüber
und an seine Stelle tritt; „Ich möchte bauen, wie
darf ich?“
Die alte Bauordnung datiert vom 2. Januar 1655 und
vermochte sich über zwei Jahrhunderte hindurch zu halten.
Sie wurde durch viele Verfügungen u. s. w. ergänzt, und
im Jahre 1808 entstand die Generalfeuerpolizeiverordnung.
Nach langen Kämpfen kam die heute noch zu Recht be
stehende Bauordnung vom 6. Oktober 1872 zustande. Die
selbe bildete die Grundlage für eine unzählige Menge
weiterer Verordnungen. Ortsbaustatuten kamen und gingen
und ein Bauunglück jedweder Art gebar in der Regel
wiederum besondere Bestimmungen. Schrittweise ent
wickelten sich die Bauvorschriften. Ursprünglich bildeten
sie den Schutz nachbarlicher und öffentlicher Interessen
und wurden dann zur Sicherheitspolizei. Nennenswerte
hygienische Bestimmungen fehlten lange Zeit. Plötzlich
am Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam eine Gärung.
Die sozialen Verhältnisse änderten sich und mit ihnen
Lebensweise und Lebensart. Die Tuberkulose nahm in
erschreckender Weise überhand und zeitigte die Not
wendigkeit, die Pflege der Gesundheit als vornehmste
Staatspflicht zu betrachten: die Hygiene wurde Gesetz.
Mit Riesenschritten eilte die Kultur weiter, voran die
Technik, mühsam nur hinkte der schwerfällige Apparat
des Baupolizeiwesens hintennach, und am Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts ist es zur Tatsache geworden,
daß selbst die Bauordnung von 1872, nach kaum dreißig
jährigem Bestehen, der modernen Entwicklung der Technik,
den Ansprüchen der Hygiene u. s. w. nicht mehr genügt.
Vergebens versuchen Verordnungen und Statuten rekti
fizierend einzugreifen, aber kaum war ein Mißstand be
hoben, so tauchte schon wieder ein andrer, stärker als
der erste, auf. Das Erhahensein, die Großzügigkeit, das,
was man heim Menschen Autorität nennt, ging den
Artikeln und Paragraphen immer mehr verloren, und
nur mit Hilfe vieler Dispensationen gelang es, Bestim
mungen zu treffen, die wenigstens halbwegs den natür
lichen Zwecken der Baukunst entsprechen. Die Staats
pflicht, unsern Erdball für die Nachwelt schön zu erhalten,
kannte die Bauordnung von 1872 nicht, und so zeitigte
dieselbe in ästhetischer Beziehung ein Charakteristikum
der Baugeschichte. Ich werde hierauf im besonderen
unter dem Titel „Baupolizei und Kunst“ zurückkommen.
Es ist heutzutage die große sozialpolitische und volks
wirtschaftliche Bedeutung der Baupolizei allgemein an
erkannt; sie greift in das materielle Volksvermögen ein
und bildet eine Grundlinie des geistigen National
vermögens; sie fördert das Volkswohl in entlegensten
Dörfern ebenso wie in großen Städten. Ihr Wert wächst
mit der Bevölkerungsdichte, und damit wächst auch die
Ausdehnung der Baupolizei.
Und wenn Technik, Hygiene, Kunst immer weiter
schreiten, immer mehr vollkommeneren Zielen entgegen
streben, so muß die Baupolizei mitschreiten. Nie ist sie
auf Jahrhunderte hinaus vollkommen zu nennen; sie muß
immer gewärtig sein, daß Neuerungen jedweder Art sie
teilweise kraftlos machen kann. Hierin liegt die größte
Schwierigkeit der Baupolizei und die Geschichte der
selben bestätigt dies. Will man aber erreichen, daß die
Baupolizei mit den Errungenschaften weiter schreiten
kann, so muß der ganze Apparat des Baupolizeiwesens
vom Gesetz bis hinab zur Vorschrift und dem Statut so
konstruiert werden, daß er jederzeit die erprobten Neue
rungen der Baukunst aufuehmen kann. Dadurch kann
ein ßaugesetz auf Jahrzehnte hinaus wohltätig wirken
und sich nicht nur der Gewalt, sondern auch der Sache
wegen Achtung vornehmster Art erringen.
Max Müller.
Adolf v. Ernst
Ueber den Lehens- und Schaffensgaug des kürzlich
verstorbenen Baudirektors Prof. Dr.-Ing. Adolf v. Ernst
haben wir in der vorigen Nummer unsrer Zeitschrift eine
Skizze veröffentlicht, die nur ein allgemeines Bild von
dem Wirken dieses verdienstvollen Ingenieurs und Lehrers
darstellt. Wir geben daher gern einer uns von hoch-
geschätzter Seite zugehenden Darstellung Raum, die ein
gehend die Verdienste Adolf v. Ernsts auf dem Gebiet
der Ingenieurwissenschaft und seine Tätigkeit als akade
mischer Lehrer wie das gewaltige Ringen des von schwerem
Leiden heimgesuchten Mannes mit dem gebrechlichen
Körper schildert und uns zeigt, wie ein starker, willens
kräftiger Geist selbst das herbste leibliche Ungemach zu
überwinden vermag. Es sei uns vergönnt, in der Zeich
nung seines Lebenslaufs bis auf seine Erlebnisse im
Kriege 1870/71 zurückzugehen, weil sie von tiefgreifen